Wer hätte gedacht, dass wir uns doch noch einig werden? Eine Sonntagsfahrt zum Nevigeser Wallfahrtsdom

Man kann ihn lieben oder hassen…

Mein Herzallerliebster ist ja eigentlich ganz aufgeschlossen, wenn ich mal wieder irgendwo hinfahren möchte, um dort ein „unglaublich spannendes Gebäude“ zu entdecken. Aber der Nevigeser Wallfahrtsdom ist ein brutalistisches Bauwerk und auch wenn die Bezeichnung für diesen Baustil eben nicht von „brutal“ oder „Brutalität“ kommt, sondern von „béton brut“ = Roher Beton/Sichtbeton, haben die Gebäude oft was Klotziges und damit tatsächlich manchmal etwas Hartes und Rohes an sich.

Ich bin mir nicht sicher, wie er ihn finden wird. Aber was ich auf dem WhatsApp-Foto meiner netten Nachbarin gesehen habe, hat mich so sehr angesprochen, dass ich unbedingt auch hierherfahren musste. Was für ein spannendes Gebäude, dachte ich beim Anblick ihres Fotos.
Speziell sei der Dom, schrieb sie auf Nachfrage, er stoße sie ab und fasziniere sie gleichzeitig und damit war klar, dass sie ein ambivalentes Verhältnis zu ihm hat. Bei den meisten Menschen ist es laut Internet eindeutiger: Entweder man liebt ihn oder man hasst ihn.
Aber da muss der Hubby jetzt durch, denn wann lässt sich so ein Ausflug besser umsetzen als einem Sonntagnachmittag, wenn man sowieso mit dem Hund raus muss?

Fachwerk und Co. im Niederbergischen Land

Kirchplatz Velbert-Neviges

Nach Velbert-Neviges im Kreis Mettmann ist es nicht weit, 28 Kilometer von Düsseldorf-Nord, etwa eine halbe Stunde Autofahrt. Mit dem ÖPNV dauert es länger, eine bis anderthalb Stunden.
Am Bahnhof parken wir und schlendern von dort aus in die Altstadt. Es ist tatsächlich eine Altstadt, Fachwerkhäuser (17.-18. Jahrhundert) stehen ordentlich nebeneinander gereiht um die ebenfalls sehr alte evangelische Stadtkirche (Ursprung 12./15. Jahrhundert), wie Kinder im Stuhlkreis, und das Fachwerk wechselt sich ab mit Schiefer verkleideten Häusern, die für das Bergische Land typisch sind.

Eigentlich ein total netter Platz, doch mein Herzi ist nicht so begeistert. Fachwerk ist nicht wirklich sein Ding und ich schätze, es würde ihm besser gefallen, wenn alles ein wenig aufgehübscht wäre und es kleine Läden und Cafés geben würde. Aber scheinbar sind das hier alles Wohnhäuser, und es ist Sonntag, bis auf uns ist niemand zu sehen, der Platz wirkt ein bisschen verlassen.


Da ist er!

Wir gehen weiter, ich hoffe, der Dom entschädigt ihn vielleicht. Und dann ist er da plötzlich zwischen zwei Häusern zu sehen: Spitz ragen zwei Zacken heraus wie die Dreiecke der Toblerone-Schokolade. Wow, denke ich: Wie futuristisch das aussieht inmitten des Fachwerks.

Ich beschleunige meinen Schritt, jetzt will ich mehr. Wir nähern uns von hinten. Ja, nicht schlecht… und da ist auch eins der hübschen Marienfenster aus Rosen zu sehen… aber es geht noch besser, ahne ich, und treibe den Hund und sein Herrchen ein bisschen an.

Und ja, ich hatte recht. Jetzt sind wir auf der Vorderseite angekommen.
Nun liegt er vor uns, in seiner ganzen Pracht, gemeinsam mit dem Pilgerhaus und den Platanen davor und der – fast möchte ich es „Piazza“ nennen…
Ah… denke ich, was für ein Wahnsinns-Bauwerk!

Wie ein Monolith!

Mariendom Neviges

Wie ein Riese hockt er da. Der Dom wird oft mit einem Zelt verglichen, unter dessen Zeltdächern die Pilger zusammenkommen sollen, für mich aber hat er mehr von einem Berg, einem Monolithen, der aus der Landschaft ragt… Tatsächlich wie eine Skulptur, so wie es auch überall geschrieben steht.
Und ach ja, ich verstehe ja irgendwie, wenn man ihn nicht mag, er ist klobig und grau, aber wo hat es so etwas schon mal gegeben vorher? So was Gezacktes und Außergewöhnliches?
Das ist doch wirklich etwas ganz Neues! Ist das nicht unglaublich toll und spektakulär?

Verstohlen werfe ich einen Blick zu meiner besseren Hälfte. Ähem… er scheint meine Begeisterung nicht ganz zu teilen. Er starrt leicht gelangweilt in der Gegend rum und der Begeisterungssturm ist nicht einmal ein laues Lüftchen.
Egal, ich finde den Mariendom ganz toll und kann meinen Blick kaum abwenden. Ich schieße ein paar Fotos, verfluche den grauen Himmel und wünschte, ich könnte hier mal Nachtaufnahmen machen.

Fast ein bisschen schräg, dass die Katholische Kirche das damals als Bau zuließ, kommt es mir in den Sinn. In den 1960er Jahren! Wo man sich doch eher vorstellt, dass zu der Zeit alles besonders streng und konservativ zuging. War aber wohl nicht so, das Gegenteil scheint der Fall zu sein.
In einem Interview des Deutschlandfunks hat ein Franziskaner-Pater gesagt, dass kurz vorher im Zweiten Vatikanischen Konzil eine Öffnung der Katholischen Kirche zu den Menschen beschlossen worden war, d.h. die Menschen sollten z.B. mehr einbezogen werden in die Liturgie, die rein lateinische Messe wurde abgeschafft und stattdessen in den jeweiligen Landessprachen geführt. Und diese Architektur sollte quasi ein Ausdruck für die Öffnung sein und die neue Gemeinschaft, was man heute ohne diese Informationen vielleicht nicht mehr so ganz versteht…
Ein Bellen erinnert mich daran, dass ich nicht alleine hier bin.

Schloss Hardenberg

Wir begeben uns auf einen kleinen Spaziergang, damit Hund und Herrchen auch noch was von unserem Trip haben, und stoßen auf einen Wegweiser mit ein paar ausgewiesenen Rundwegen um Neviges, alles sehr schön gemacht. Theoretisch könnte man von hier aus eine Stunde oder länger in der Natur wandern.
Doch vorher kommen wir noch am Schloss Hardenberg (Ursprünge aus dem 15.Jahrhundert) vorbei, mit einem dreiflügeligen Komplex von Wirtschaftsgebäuden und der Hauptburg, dem Herrenhaus.

Blick auf Neviges

Wir machen nur einen kleinen Gang in der Natur, begegnen dabei ein paar anderen Hunden und ihren Besitzern, so dass auch der Hund zufrieden ist und schauen von einer kleinen Anhöhe auf Neviges herab. Die Landschaft ist hügelig, wir kommen ein bisschen aus der Puste. Auf dem Rückweg passieren wir den Kreuzberg mit seinen 14 Stationen des Kreuzweges. Ob es hier früher mal voller gewesen ist? Bis auf ein Paar ist hier außer uns niemand zu sehen.

„The Rock“

Wir kehren zum Dom zurück. Jetzt weiß ich plötzlich, woran er mich erinnert: An ein Gemälde von Charles Rennie Mackintosh, das ich mal in Edinburgh gesehen habe! Leider konnte ich es nie wiederfinden, nicht in Büchern und nicht im Internet, aber es gibt ähnliche Gemälde von ihm, die er in Südfrankreich malte.


Das Gezackte, das Graue, das Monolithische… passt irgendwie alles. Auch die Rosenfenster erinnern grob an Mackintosh.
Wie auch immer, natürlich muss ich einmal in den Dom hinein.

Innen drinnen

Leider werde ich enttäuscht. Da Sonntag ist, findet gerade ein Gottesdienst der französischen Gemeinschaft St. Martin statt, die nach dem Weggang der Franziskaner im Jahr 2020 aufgrund von Nachwuchsmangel die Gemeinde übernommen hat. Das Innere wirkt ziemlich dunkel, aber auch sehr weit. 6000 Menschen passen hier rein, was man sich von außen gar nicht vorstellen kann, aber hier sieht man es. Die Rosenfenster erstrahlen in der Dunkelheit vermutlich umso mehr, leider kann ich sie nicht betrachten aufgrund des Gottesdienstes. Hätte ich mir natürlich denken bzw. auf der Webseite nachgucken können. Vielleicht ein anderes Mal…

Foto: Anja W.

Velbert-Neviges

Draußen warten ungeduldig Hund und Herrchen und wir schlendern langsam zurück zum Parkplatz. Hier und da eine Gaststätte, die mich irgendwie an die Gastronomie meiner Kindheit und Jugend erinnern. Die letzten Renovierungen scheinen schon etwas her zu sein, zumindest findet man hier nichts, was der Großstädter inzwischen so gewöhnt ist: vegane Kaffees und so was in der Art. Deshalb ist der Wunsch, einzukehren, beim Göttergatten auch gegen Null vorhanden. Wir kommen noch an einem interessanten Haus mit der Aufschrift Bergischer Hof vorbei.

Bestimmt war da mal ein Café drin! Wie schade, dass es das nicht mehr gibt, da könnte man doch echt was draus machen, denke ich. Und die Seitentür weist auf einen ehemaligen Antiquitätenladen hin, nun auch verlassen. Wie bedauerlich… dieses ganze Städtchen wirkt ein ganz klein bisschen so, als hätte es seine besten Tage hinter sich. Oder liegt es am grauen Sonntag im April? Oder doch daran, dass so viele Menschen aus der Katholischen Kirche ausgetreten sind in den letzten Jahren?

An Architektur sieht man, glaube ich, noch öfter das, was als „Bergischer Dreiklang“ bezeichnet wird: Schwarze Fachwerkbalken plus weiße Flächen dazwischen plus grüne Türen und Fensterläden. Sehr ansprechend!

Fazit des Herzallerliebsten

Als wir ins Auto steigen, fällt mir auf einmal ein, dass ich vor lauter Begeisterung etwas vergessen habe.
„Und?“, frage ich zögerlich… „Wie findest du den Dom?“ Irgendwie ja blöd, wenn er nur mir gefallen hat.
Er sieht mich an und muss nichts weiter sagen.
Mhmm… wie schade.
„Aber wir haben etwas Neues entdeckt!“, werfe ich ein.
Wieder nur ein leicht vernichtender Blick.
„Wir sind andere Menschen, als wir zuvor waren! Wir haben unser Wissen erweitert und ein Stück von der Welt entdeckt!“
„Was? Wieso das denn?“, fragt er und guckt mich entgeistert an.
„Wir haben Velbert-Neviges entdeckt!“, entgegne ich triumphierend.
„Velbert-Neviges…“, erwidert er und betont jede Silbe mit spöttischem Drei- äh Beiklang. „Wir waren in Velbert-Neviges, doch nicht in New York oder in Tokio!“
Ich zucke mit den Schultern.
„Wir haben wunderschöne alte Häuser gesehen im typischen Stil der Region und wir haben Weltarchitektur gesehen.“
„Weltarchitektur?“ Er blickt mich an, als sei ich komplett irre geworden. „Wir haben einen in die Jahre gekommenen Ort gesehen, der mal gründlich geputzt und renoviert werden müsste, und einen dreckigen, unförmigen Bauklotz in der Mitte.“
Oh je… denke ich. Was soll ich dazu sagen. Der Dreck, der sich auf Beton nach einer Weile bildet, ist tatsächlich das, was die Menschen am meisten am Brutalismus stört. Da hat er irgendwie recht mit.
„Man kann die Dinge so oder so sehen…“, entgegne ich achselzuckend. „Ich sehe sie anders.“
„Hm.“
Wir kommen da einfach nicht zusammen.
Ich starte den Wagen und frage, ob wir noch ein Stück Kuchen holen wollen. „Auf jeden Fall“, grinst er und drückt meine Hand.

Ist alles vielleicht öfter wie ein Kippbild zu betrachten?

Vielleicht ist es ein bisschen wie bei der optischen Täuschung, diesem berühmten Kippbild mit der alten und der jungen Frau. Je nach Blickwinkel sieht man die alte oder die junge. Und hier ist es ähnlich: Die einen sehen Schönheit, die anderen Hässlichkeit. Beides ist nicht falsch.

Da kann sogar der Hubby zustimmen.


Infos

  • Nevigeser Wallfahrtsdom/Mariendom
  • Erbaut: 1966-1968
  • Architekt: Gerhard Böhm (1920-2021), Träger des renommierten Pritzker-Preises
  • Stil: Brutalismus
  • Denkmal: Seit 1995
  • Anfahrt: Elberfelder Str. 12, 42553 Velbert

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