Brüssel (Teil 1): Hauptstadt des Jugendstils 2023 – Ausstellung im Maison Hannon

33 Stunden Brüssel. 23 Kilometer Laufstrecke insgesamt. Ärger mit dem Zug, aber gutes Wetter für Streifzüge durch mehrere Viertel. Absolute Highlights: das Innere des Maison Hannon und des Hotels van Eetvelde. Die Hauptstadt Belgiens feiert in diesem Jahr das 130-jährige Jubiläum des Jugendstils. Und ich habe einen kleinen Teil davon miterlebt! 😀

Maison Hannon

Kurzüberblick

1893, vor genau 130 Jahren, vollendete Victor Horta das Haus Tassel, das Gründungswerk des Jugendstils in Brüssel. Aus diesem Grund gibt es in diesem Jahr ein sehr großes Angebot an Veranstaltungen. Informieren über das gesamte Programm kann man sich am besten auf dieser Webseite: Art Nouveau Brussels 2023.

Ich habe mir bereits im Vorfeld den „Art Nouveau Pass“ für 20 Euro gekauft. Damit kann man theoretisch drei Jugendstil-Museen (also auch das Innere der Häuser) und 11 aktuelle Ausstellungen besichtigen. Aber Vorsicht: Für das Haus Solvay, das Haus Cauchie und das Horta-Museum muss man sich vorher anmelden! Informationen dazu gibt es hier: Art Nouveau Pass. Manche der Ausstellungen laufen auch noch bis ins nächste Jahr hinein. Der Pass gilt für 9 Monate. Also noch genug Zeit, sich aufzumachen! 😉

Was ich mir von meinem Besuch erhoffe

Diesmal möchte ich weitere Details über den Jugendstil erfahren. Was ist mit der „belgischen Linie“ gemeint? Wer war eigentlich Victor Horta? Und: Was sind die typischen Merkmale des Jugendstils hier?

Zwei Nächte habe ich dem – mich immer in meinen kultourellen Leidenschaften unterstützenden – Ehegatten abgetrotzt, mehr saß nicht drin. Zehn Stunden Homeoffice pro Tag, dazu die aufoktroyierte Hunde- und Katzenbetreuung und noch Selbstversorgung mit Essen, das gestaltet sich in der realen Umsetzung für längere Zeit doch als etwas schwierig. Die Mindestbestellung der Pizzeria für 29 Euro mussten wir dann noch am übernächsten Tag vertilgen. 😉

Zugchaos

Als ich den Bahnhof Bruxelles-Midi/Brussel-Zuid gegen Mittag erreiche, ist meine Stimmung erstmal im Keller. Mein Magen grummelt und ich habe Kopfschmerzen. Der Thalys brauchte aufgrund einer Störung eineinhalb Stunden länger als sonst, was alles von meiner eh schon knapp bemessenen Zeit abgeht. Zwischendurch war ich schon versucht, auszusteigen und umzukehren. Insgesamt war ich fünf Stunden unterwegs. Zwei Stunden und fünfzehn Minuten hätte ich mit dem Auto von Düsseldorf aus benötigt… Nun denn. Was man nicht alles für die Umwelt und den Klimaschutz in Kauf nimmt!

Ich versuche, mich auf das schöne Wetter zu konzentrieren, das an diesem Oktobertag herrscht, doch zunächst einmal muss ich meine Gepäcktasche loswerden. Nirgendwo ein Piktogramm mit Koffern zu erkennen… Tausende von Menschen hasten an mir vorbei und ich muss aufpassen, nicht über den Haufen gerannt zu werden. Dafür stolpere ich über einen Ticketautomaten für den Nahverkehr. Ok, dann versuche ich hier mein Glück. Verflixt! Die EC-Karte wird auch nicht angenommen. Bin ich zu dämlich oder schon zu alt? Schließlich lande ich in einem Ticketshop. Der nette junge Angestellte versorgt mich mit allen nötigen Informationen. Endlich befinde ich mich wieder auf dem sprichwörtlichen „aufsteigenden Ast“.


Mit meiner jahrelangen Berlin-Erfahrung rausche ich schließlich mit der U-Bahn von Punkt A nach Punkt B, als hätte ich nie anderes getan. Hab‘ ich es doch noch nicht verlernt, mich ganz alleine in einer fremden Großstadt zurechtzufinden… Und das, obwohl ich doch angeblich eine „westfälische Landpomeranze“ bin, wie meine aus München stammende Großmutter immer spöttisch meinte. Kannste mal sehen, liebe Großmutter… Ups. Als ich aussteige, stelle ich bestürzt fest, dass ich eine Station zu weit gefahren bin. Ähem… Fast kann ich meine Großmutter aus dem Himmel herunter zwinkern sehen. 😉

Tour durch St. Gilles /Sint Gillis

Saint-Gilles (oder Sint-Gillis auf Niederländisch) ist eine von 19 Gemeinden der Stadt Brüssel. Ursprünglich mal als Oberbrüssel bezeichnet, nahm sie ihren Namen schließlich Ende des 18. Jahrhunderts von der örtlichen Kirche an. Auf der belgischen Tourismus-Seite wird es als „multikulturelles Stadtviertel mit dörflichem Charme“ bezeichnet, „allerdings im Sinne eines Global Village mit vielen Bio- und Fairtradeläden“. Außerdem gilt es als Künstlerviertel. Tatsächlich war es offenbar schon immer, zumindest seit der Industrialisierung, eine Zuzugsgemeinde für Migranten, zunächst aus Zentral- und Osteuropa, nach dem Zweiten Weltkrieg dann aus mediterranen Ländern und dem Ostblock. Ich beschließe, das Wichtigste zuerst zu erledigen: Das Maison Hannon steht auf dem Plan. In einigen Büchern und auch auf Internetseiten wird es auch als „Hôtel Hannon“ bezeichnet. „L’hôtel particulier“ ist der französische Ausdruck für gehobene Bürgerhäuser, es hat also nichts mit unserem deutschen Wort Hotel zu tun. Es wird um Voranmeldung gebeten, aber spontane Besuche sind willkommen (wenn genug Platz vorhanden ist).

Art-Nouveau-Café „La porteuse d’Eau“ – Belgische Linie

Doch zuvor komme ich genau an dem Café vorbei, indem ich 2012 mal mit dem Herzallerliebsten eingekehrt bin. Dort fällt mir auf, dass die „Belgische Linie“ sich eigentlich von selbst erklärt. Das Café trägt den schönen Namen „La Porteuse d’Eau“ und war damals wie heute das erste Art-Nouveau-Gebäude, das ich beim Betreten der Stadt sehe. Ein komischer Zufall… Aber tatsächlich: Linie, Linie überall! Die Blumen der bunten Glasmalerei über dem Eingang und auch die eiserne Balkonbrüstung… alles besteht aus geschwungenen Linien. Wenn man genau hinguckt, eigentlich das ganze Gebäude: der Giebel, die Fensterdetails, der Eingang als Ganzes… Belgische Linie! Stefanie Lieb schreibt in ihrem Buch „Was ist Jugendstil?“ dazu, dass die Formensprache des Jugendstils in Belgien eine Vorliebe für ornamentale Linien aufwies, „hergeleitet und als neue Ausdrucksform proklamiert durch Henry van de Veldes Vorträge und Schriften.“ (S.89 Was ist Jugendstil? Stefanie Lieb). Aha. Damit wäre die Frage schon mal geklärt. Henry van de Velde steht natürlich auch noch auf meiner Liste. Aber dazu später. Wo muss ich jetzt nochmal hin?

Ich stiefele die Avenue Jean Volders hinab und lasse den Platz um die Kirche St. Gilles links liegen. Es ist ein schöner Platz mit mehreren Cafés und einem Markt, auch die Kirche wäre sicher sehr spannend (ehemalige Abtei), aber man kann nicht alles haben. Außerdem muss ich mich erst einmal an meinen Status als Alleinreisende gewöhnen. Normalerweise begleitet mich seit 6 Jahren mein Hund und ohne ihn fühlt es sich ein wenig komisch an. Auch, wenn die persönliche Sicherheit in Brüssel laut einer belgischen Freundin nicht wirklich gefährdet ist, muss ich mich in den ungewohnten Zustand einfinden und laufe lieber erst einmal ein wenig.

Straßenkreuzung in St. Gilles

Leider gibt das Foto nicht wirklich wieder, was ich an diesem Platz gesehen habe. Fünf Straßen gehen von ihm ab und tatsächlich waren alle Häuser alte Häuser! So was habe ich in Deutschland noch nie wahrgenommen. Bei uns sind ja bei solchen Plätzen/Straßenkreuzungen meistens immer Neubauten/Nachkriegsbauten dazwischen, so dass es ein holpriges Sammelsurium aus Alt und Neu ist. Was auch was für sich hat, wenn man unterschiedliche Bauepochen so direkt nebeneinander sieht. Chaos wie ich es mag (siehe Einführung Brüssel). 😉 Aber dieser Platz hier ist schon ein spektakulärer Anblick. Ich wünschte, die KI würde schon authentische alte Stadtbilder generieren können. So wie es zu allen möglichen Zeiten ausschaute. Man tippt nur die Jahreszahl ein und schon spuckt sie die passenden originalen Häuserfronten aus. Aber wo soll sie die Daten dafür hernehmen…

Maison Hannon

Nach 1,8 Kilometer erreiche ich das erste Highlight meines Besuchs. Das Maison Hannon sieht schon von außen total toll aus. Vor allem das geschwungene Erkerfenster sticht sofort ins Auge. So was habe ich noch nie gesehen!

Eine Handvoll Touristen befinden sich vor dem Haus und im Garten. Sofort kommt eine spezielle Stimmung auf, ich würde sie als feierlich bezeichnen. Gott sei Dank bin ich nicht auf halbem Weg nach Hause umgekehrt!

Innen werde ich von einer schicken Dame im Kostüm empfangen, die mich instruiert, meine Tasche einzuschließen in ein Fach, dessen Zahlencode ich selbst festlegen soll. Das macht mich etwas nervös, was, wenn ich ihn vergesse? All meine Papiere und meine Kamera… „Das Geburtsdatum!“, raunt sie mir zu. Na klar! Endlich darf ich durch einen Vorhang gehen und wow…

Fresko Paul Baudouin

Satte, schimmernde Farben eines Wandfreskos fluten mich, kombiniert mit geschwungenen goldenen „Ranken“ des Treppenaufgangs. Zwei Hirten – das Ehepaar Hannon – blicken auf eine Frau, die Rosen verstreut: eine Allegorie für die Freuden des Lebens und die erfüllte Liebe, wie ich aus der Infobroschüre erfahre.

Blick aus dem Obergeschoss

Die Frauen mit den Leiern links davon symbolisieren die Harmonie der Natur. Das alles ist wirklich sehr beeindruckend. Allein dafür haben sich die Beschwerlichkeiten der Reise ja schon gelohnt. Solche tiefen satten Farben ist man gar nicht gewöhnt in unserer Zeit… auch nicht ein Fresko in einem Wohnhaus! Erinnert doch eher an die Sixtinische Kapelle oder sonstige Kirchen… Gewohnt hat hier also das Ehepaar Hannon, erbaut wurde es von dem befreundeten Architekten Jules Brunfaut in den Jahren 1903 bis 1904.

Der Architekt selbst baute eigentlich eher im klassizistischen Stil, dieses Haus war sein einziges Werk im Jugendstil/Art Nouveau. Das Ehepaar Hannon hatte ihn gebeten, sich von den Häusern von Horta, Henry van de Velde usw. inspirieren zu lassen. Édouard Hannon begeisterte sich für Poesie, die Antike und Technologie, Marie Hannon für Botanik. Das Haus sollte eine Synthese ihrer Geschmäcker darstellen. Da das Fresko eine uralte Technik ist, hat der Hausherr hier wohl seine Liebe zur Antike ausgedrückt… und der Wald, der See, die Blumen… das alles steht dann für die Hausherrin. Das ist ja mal wirklich was ganz Tolles. Ein auf die Bewohner zugeschnittenes Haus, innen wie außen!

Wird im Internet als „bow-window“ bezeichnet: „Bogenfenster“

Ich drehe mich um und erblicke den „Wintergarten“ mit dem faszinierenden runden Fenster. Im Internet lese ich unter dem Stichwort „Restoration“, dass es als „bow-window“ bezeichnet wird: „Bogenfenster“. Das Glas wurde von Raphael Evaldre, einem Schüler des berühmten Louis Comfort Tiffany entworfen, wobei amerikanisches Glas verwendet wurde, das auf besondere Weise mit dem Licht spielt, welches nämlich den Einfall des natürlichen Sonnenlichts vervielfältigt. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus und durchschreite Raum für Raum.

Blick auf die Eingangshalle mit dem Fresko

In dem Zimmer, das zum Garten ausgerichtet ist erfahre ich, dass Édouard Mannon leitender Ingenieur im Chemiekonzern Solvay war (später technischer Direktor und einer der Geschäftsführer). Privat fotografierte er und war ein Vorläufer des Piktoralismus. Er war außerdem Gründungsmitglied der „Association belge de photographie“ und fotografierte auf seinen Reisen sowohl Landschaften als auch Menschen. Besonders interessant finde ich, dass er als „sensibel für die soziale Frage“ beschrieben wird mit einem teils soziologischen, teils dokumentarischen Blick auf sozial benachteiligte Gruppen.

Das ist ja ein Merkmal des Jugendstils, dass die Grundgedanken eben aus der englischen Arts-and Crafts-Bewegung hervorgingen, welche Kritik an der industriellen Produktion der Güter (und auch an den Lebensbedingungen der Arbeiter) übten. Wie hieß es noch? „Die Erlösung der Menschheit durch Kunst, Schönheit und Liebe“, war das utopische Anliegen der Art-Nouveau-Bewegung. Also ging es nicht nur um das Zufriedenstellen einiger weniger reicher Leute mit schönen Häusern… Es ging um mehr und das finde ich wirklich bemerkenswert und toll.

Familie Mannon

Endlich schreite ich die wunderschöne Treppe hoch und stelle mir vor, dass die Dame des Hauses hier immer aufpassen musste mit dem langen Kleidsaum, den die Mode damals vorgab. Oben befindet sich noch bis Juni 2024 eine Ausstellung über den belgischen Jugendstil „Belgian art nouveau“ mit Möbeln und kunsthandwerklichen Gegenständen von Henry van de Velde, Paul Hankar und Gustave Serrurier-Bovy. Ob wir nicht doch eine Tapete mit so einem tollen Muster anbringen sollten, lieber Hubby? 😉

Art-Nouveau-Merkmale

Was für ein Einstieg! Im Garten mache ich eine kurze Pause und rekapituliere nochmal. Was ich hier gesehen habe, war definitiv ein Gesamtkunstwerk. Das wollten die Jugendstilkünstler ja, eine Einheit von innen und außen und in diesem Fall auch noch total individuell auf die Bewohner und ihre Geschmäcker zugeschnitten, einzigartig eben.

Des Weiteren kann man hier gut sehen, dass es sich um „echte Jugendstilarchitektur“ handelt. Wie ich bereits in dem Beitrag zu Düsseldorf-Friedrichstadt geschrieben habe, befinden sich laut Stefanie Lieb („Was ist Jugendstil?“) in unseren deutschen Großstädten zahlreiche Gründerzeitbauten mit „aufgeklebtem Jugendstil-Dekor“ (die ich auch schön finde), aber hier haben wir es eben mit jenen herausragenden Bauten zu tun, die im Geiste der Ideen der Art-Nouveau-Bewegung entstanden sind.

Am Maison Hannon kann man meiner Ansicht nach gut erkennen (linkes Foto), dass der (echte) Jugendstil nicht rein dekorativer Fassadenschmuck war, sondern auch den Baukörper betraf. Bei Wikipedia heißt es: „Die Ecke, die aus drei Erkern besteht, ist mit einem bemerkenswerten schmiedeeisernen Balkon verziert, der von einer steinernen Unterkonstruktion getragen wird, die sich vom Sockel bis zum ersten Stockwerk erstreckt, wo sie sich in Voluten öffnet.“ Das Ganze erinnert mich persönlich ein kleines bisschen an die Form einer Vase und damit auch an Blumen und ihre Stiele. Ganz abgesehen davon besteht der schmiedeeiserne Balkon komplett aus geschwungenen Linien, Pflanzenstängeln oder Ranken gleich. „Eine andere Möglichkeit des Zusammenspiels zwischen Architektur und Ornament ist die Projektion von Jugendstilformen auf einzelne Architekturglieder oder Baukörper. (…) Das Jugendstilornament hat in der Architektur die wichtige optische Funktion, Naturformen in das tektonische Gefüge zu integrieren und es so zu beleben, zu „beseelen“, wie die Jugendstilkünstler es genannt haben. („Was ist Jugendstil? Stefanie Lieb“). Findet das hier nicht genau so statt? Das Geschwungene, das an Elemente aus der Natur Erinnernde, bringt Schwung und Bewegung rein und schenkt dem Haus damit so was wie eine Seele… Fantastisch, oder? 😀

Aber ich habe keine Zeit zu verlieren, ich muss weiter. Ich orientiere mich auf dem Plan einer Broschüre, den ich schon vor 10 Jahren benutzt habe (Fünf Jugendstil-Routen durch Brüssel). Alle Häuser auf der Route „St. Gilles“ schaffe ich wohl heute nicht mehr. Aber das Horta Museum befindet sich relativ in der Nähe, und auch wenn ich kein Online-Ticket mehr bekommen habe, könnte ich mal kurz vorbeischauen und es von außen fotografieren. Fortsetzung folgt. 🙂

Eine Antwort auf „Brüssel (Teil 1): Hauptstadt des Jugendstils 2023 – Ausstellung im Maison Hannon

Add yours

Hinterlasse einen Kommentar

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑