Brüssel (Teil 2): Saint Gilles/Sint Gilles – Die vielen Gesichter des Jugendstils und das Horta Museum

An der Ecke Avenue du Haut-Pont/Rue Franz Merjay in der Nähe des Maison Hannon sitzen eine Menge Leute auf der Außenterrasse eines Cafés namens „Chez Franz“. Es erinnert mich von der Atmosphäre her an Berlin, wo auch öfter mal mitten in einem Wohnviertel ein Café auftaucht – und es in Prenzlauer Berg ebenfalls einen berühmten Club namens Frannz gibt. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, würde ich einkehren, aber ich will ja noch ein bisschen herumlaufen und Jugendstil-Häuser entdecken… Ah, dort, ein Sgraffito! Eine gute Gelegenheit, mal zu recherchieren, was das überhaupt ist.

Sgraffito

Bei einem Sgraffito handelt es sich um eine historische Dekorationstechnik zur Bearbeitung von Wandflächen. Der Unterschied zum Fresko ist, dass die Linien und Flächen in den Kalkputz eingeritzt werden („sgraffiare“ oder „graffiare“ = Kratzen) Dadurch tritt das Bild noch mehr hervor, so dass man es von weitem besser erkennen kann. Im Art Nouveau kommen oft Frauenfiguren vor: idealisierte Frauen, „göttinengleich“, mit langen, wallenden Haaren und feinen Gesichtszügen. Sie sind einerseits dekorativ, andererseits stehen sie häufig für etwas anderes, sind also manchmal eine Allegorie. Zum Beispiel kann eine Ähre im Haar auf den Sommer verweisen. Oder eine Farbpalette in der Hand symbolisiert die Malerei. Sgraffiti bedecken in Brüssel meistens nicht die gesamte Fassade, sondern befinden sich an unterschiedlichen Stellen: beispielsweise als Fries unter dem Gesims, über dem Oberlicht des Fensters oder unter dem Balkon. Durch die jeweilige Lage heben sie bestimmte Elemente der Fassade hervor. Auch tragen sie dazu bei, das eigene Haus von dem des Nachbarn zu unterscheiden.

Eisen als wichtiges Baumaterial

Ein weiteres typisches Merkmal des Jugendstils ist der Einsatz von Eisen. Das kann man ein paar Schritte weiter, in der Rue de la Réforme Nummer 4, dem Haus des Tiermalers Géo Bernier, gut sehen: Die schmiedeeiserne Eingangstür ist sehr markant. Seit der industriellen Revolution ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Eisen zunehmend als Baustoff benutzt, zunächst bei Brücken, dann auch in der aufkommenden Industriearchitektur, sprich: in den neu entstehenden großen Fabrikgebäuden (anstatt Manufakturen wie vorher), aber auch bei neuen Bahnhofsbauten und in Markthallen und Warenhäusern (dort oft in Verbindung mit Glas). Ebenso spielten die Gewächshäuser eine Rolle bei der Verwendung des neuen Materials. Um 1800 entstanden die ersten, in denen empfindliche und exotische Pflanzen überwinterten (London: Kew Gardens oder in der Nähe von Brüssel: Laeken). Die berühmteste Eisenkonstruktion dieser Zeit ist natürlich der Eiffelturm in Paris, errichtet zwischen 1887 und 1889 von Gustave Eiffel für die Weltausstellung 1889.

Diese neuen Gebäudeformen und Konstruktionsmethoden machten den Beruf des Bauingenieurs erst notwendig, der neben dem Architekten Projekte plante und sie technisch umzusetzen half. Die Jugendstil-Architekten erkannten zudem den ästhetischen Wert von Eisen und Glas und setzten es zunehmend ein. Auch folgten sie dem theoretischen Ansatz, die „Wahrheit der Konstruktion“ müsse sichtbar gemacht werden und nicht wie im Historismus verhüllt sein oder versteckt werden unter einer Maske an historischem Dekor.

Bereits im Maison Hannon sahen wir viel Schmiedeeisernes: den Balkon außen, das Treppengeländer, die Rahmung des Bogenfensters… Und hier – am Haus des Malers Géo Bernier – sehen wir ein schmiedeeisernes Tor mit Kreismotiven und stilisierten Pflanzen. Das Haus wurde 1902 erbaut und vom Architekten Alban Chambon entworfen. Es enthält auch ein Künstleratelier für den als Tiermaler bekannten Künstler und seine Frau Jenny Hoppe, die ebenfalls malte.

Geometrischer Jugendstil bei einem Gebäudekomplex aus dem Jahr 1907 (Chaussée de Charleroi 258-258 a, Chaussée de Waterloo 406-410, Rue Africaine 2-2b)

In Darmstadt hatten wir ja bereits den eher „geometrischen Jugendstil“ (im Gegensatz zum linearen-organischen) kennengelernt. Auch hier in Brüssel taucht er wieder auf und zwar bei diesem Gebäude von Benjamin De Lestré de Fabrickers. „Die gleiche stilistische und ornamentale Grammatik findet sich bei diesen drei Gebäuden unterschiedlicher Größe: rechteckige Fenster, die alle mit drei horizontalen Glyphen versehen sind, kolossale Pilaster, die teilweise (horizontal oder vertikal) kanneliert sind, geometrisches Dekor mit Stäben auf viereckigen Füßen, eingefasste Kreise oder Diamantspitzen, die auf drei Stäben ruhen usw.“ (Die Seite Heritage Brussels informiert detailliert über alle interessanten Häuser.) Übersetzt heißt das: Es ist ziemlich viel Symmetrie im Spiel. 😉

Ursprünglich stand ab 1845 genau an dieser Stelle eine Taverne mit dem Namen „Ma Campagne = Meine Landschaft“. 1907 wurde sie ausgetauscht durch dieses Art-Nouveau-Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich das „Grand Café de Ma Campagne“ befand. Hier kann Fotos von beiden Etablissements sehen. Auf einem Straßenschild an der Ecke der Kreuzung steht heute sinnigerweise „Ma Campagne deviant un carrefour particulière“: „Meine Landschaft wird zu einem besonders lebendigen Knotenpunkt.“ Tatsächlich ist hier ziemlich viel los und von „Landschaft“ kann man nun wirklich nicht mehr sprechen.

Horta Museum

Mit so viel Fachwissen gestärkt geht es nun zu einem absoluten Brüssel-Highlight: dem ehemaligen Wohnhaus und Atelier von Victor Horta. Leider waren die Online-Tickets (welche die Möglichkeit bieten, die Innenräume zu besichtigen) bereits ausverkauft und als ich frage, ob ich trotzdem das Haus besichtigen darf, lehnt die junge Dame es wegen akuter Überfüllung ab und meint, ich solle es später nochmal versuchen. Ich bin schon einmal hier gewesen und Fotos vom (außergewöhnlichen) Inneren des Hauses sind ohnehin strikt verboten, also begnüge ich mich heute mit dem Äußeren.

Besonders gefällt mir die Farbkombination aus dem gräulich wirkenden Stein und den braunen Fensterrahmen und der Türen. Tatsächlich scheint der gräuliche Stich eher von der Verwitterung zu kommen, ich lese bei Brussels Heritage, dass die Fassade aus weißem Kalkstein besteht, einem speziellen Stein aus Euville und Savonnières (Orte in Frankreich). Letzterer wird auch häufig zur Herstellung von Skulpturen benutzt, die Figuren und Statuen im Kölner Dom sind beispielsweise aus demselben Material angefertigt.

Wie auch immer, wir sehen hier zwei schmale dreigeschossige Häuser nebeneinander, links das Wohnhaus, rechts das Atelier, wobei sich auf dem linken noch ein Mansarddach befindet. Erbaut hat Victor Horta es 1898 für sich und seine Familie und zwar nachdem er bereits einigen Erfolg gehabt hatte mit den Häusern (Hotels) Tassel (1893), Solvay (1894) und van Eetvelde (1895), die später alle als herausragende Beispiele des Jugendstils Eingang in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste fanden. Sein eigenes Haus übrigens ebenso.

Der Peitschenhieb

Ich finde dieses Haus wunderschön, es ist einfach eine Augenweide, zum Beispiel die an Schmetterlingsflügel erinnernde Balkonbrüstung des Erkers links oben, welche im ersten Stock des rechten Hauses bei den Fenstern nochmal aufgenommen wird. „Die Schmiedearbeiten sind von bemerkenswerter Qualität, aus vernietetem Flacheisen mit Peitschenmotiven, die für den Jugendstil charakteristisch sind“, steht in der Beschreibung des Hauses bei Heritage Brussels. Der Peitschenhieb ist mir schon häufiger begegnet und wenn ich es richtig recherchiert habe, geht er auf den Schweizer Hermann Obrist zurück, einen Bildhauer, der auch Stickereien entwarf. Er gilt als einer der Begründer des Jugendstils und ließ die Gesellschafterin seiner adeligen Mutter, Berthe Ruchet, mit der er ein Stickatelier in Florenz und München gründete, einen Wandteppich fertigen, mit Alpenveilchen als Motiv, was ein Kritiker der Kunstzeitschrift PAN folgendermaßen beschrieb: „Wie die jähen, gewaltsamen Windungen der Schnur beim Knallen eines Peitschenhiebes erscheint uns diese rasende Bewegung.“ So hieß dieser Wandbehang von nun an nur noch „Der Peitschenhieb“. Hier kann man ein Bild davon sehen.

Diese beiden Häuser wirken auf mich unfassbar elegant. Gleichzeitig lese ich überall, dass es Victor Horta selbst nicht nur auf das elegante Äußere, also auf die geschwungene dynamische Linie, die alles in Bewegung setzt, ankam, sondern er wollte auch eine Ausgeglichenheit mit der geraden Linie erzeugen und vor allem über alles äußerlich Ästhetisch-Schöne hinaus wollte er: eine wirklich neue Bauweise erfinden! Bei der UNESCO-Bewertung heißt es:

„Die stilistische Revolution, die diese Werke (Erläuterung: die vier Häuser Hortas, siehe oben) darstellen, ist gekennzeichnet durch ihren offenen Grundriss, die Streuung und Umwandlung des Lichts im gesamten Gebäude, die Schaffung eines Dekors, das die geschwungenen Linien der Dekoration, die die Gebäudestruktur umschließen, brillant abbildet, die Verwendung neuer Materialien (Stahl und Glas) und die Einführung moderner technischer Hilfsmittel. Durch den rationalen Einsatz der Metallstrukturen, die oft sichtbar oder subtil verdeckt sind, hat Victor Horta flexible, helle und luftige Wohnbereiche konzipiert, die sich direkt an die Persönlichkeit ihrer Bewohner anpassen“.

Sprich: Das Konzept der hellen, luftigen offenen Wohnbereiche, das wir ja heutzutage auch sehr zu schätzen wissen, hat dort im Prinzip seinen Anfang gehabt. Wahnsinn, oder? 😀 Aber ich werde im dritten Teil nochmal auf Victor Horta zurückkommen, denn dort durfte ich „sein“ Hotel Eetvelde von innen besichtigen und fotografieren!

Weitere bemerkenswerte Häuser in St. Gilles

Zum Schluss möchte ich wieder ein paar Fotos für sich selbst sprechen lassen. Auf meiner Route durch St. Gilles habe ich natürlich noch das ein oder andere tolle Haus gesehen. Doch jedes einzelne zu beschreiben, das wird etwas viel. Ich werde die Adresse jeweils dazu schreiben, bei Heritage Brussels kann man alles in die Suchmaske eingeben, dort finden sich detaillierte Beschreibungen der Häuser. (Übersetzungen kann ich mit DeepL empfehlen!) Viel Spaß!

Avenue Ducpétiaux 18-20

Rue d’Albanie 79-81

Wunderschönes Fenster in der Rue d’Albanie 79-81

Rue Antoine Bréart 47

Rue Antoine Bréart 47
Kein Jugendstil, sondern ein Haus der Moderne!
Erbaut 1924 nach Plänen von Pierre Verbruggen, der es selbst nutzte mit Büros und Wohnräumen

Die schöne Avenue Jef Lambeaux mit Blick auf das Neo-Renaissance-Rathaus von Saint-Gilles (von hinten)

Avenue Jef Lambeaux 25

Der Architekt arbeitete hier zusammen mit seinen Brüdern, eine schöne Schrift!

Avenue Jef Lambeaux 8-10

Avenue Jef Lambeaux 12 – Maison Peereboom

Die Fenster des Erdgeschosses und die Kellertüren werden durch wunderschöne schmiedeeiserne Gitter mit Blumenmotiven geschützt

Rue de Savoie 52

Schöne Doppelflügeltür

Rue de Savoie 66

Jugendstilhaus mit symmetrischer Komposition, erbaut 1910
Hohes Sockelgeschoss aus Blaustein, durchbrochen von zwei Rundbogenfenstern
Sgraffiti mit Allegorien des Tages: Ein Hahn, eine Sonnenblume und eine Eule

Hôtel Winssinger (Victor Horta)

Und zu guter Letzt noch ein weiteres Projekt von Victor Horta in St. Gilles: in der Rue de l’Hôtel des Monnaies 66 befindet sich das Hôtel Winssinger, erbaut von 1894 bis 1896 für den Ingenieur Winssinger und seine kranke Frau.

Wir haben wieder ein Bogenfenster, „welches aus der Mauerverzierung hervortritt und eine das ganze Gebäude dominierende vertikale Achse sowie eine Verbindung mit den beiden Balkonen des ersten Stocks bildet. Zwei gotisch anmutende Säulen umranden den geschwungenen Part, während die vier Eisenstützen sie vertikal durchqueren, um so den darüberliegenden Balkon zu festigen“ (Victor Horta, Photographs by Christine Bastin & Jaques Evrad, 2003).

Allerdings ist hier zu lesen, dass Victor Horta selbst in den Jahren 1928/29 die Fassade und das Innere des Hauses änderte, um es in ein Anlageobjekt umzuwandeln. Damals wurde ein ganzes Stockwerk entfernt inclusive des schönen Geländers. Tatsächlich ist ein Foto von der ursprünglichen „Version“ im Internet zu finden… 🙂

Infos:

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