Die Puppenstadt Riga
„Habe ich das richtig verstanden: Puppenstadt?“, frage ich den – teils Deutsch, teils Englisch sprechenden – Taxifahrer, der uns an diesem späten Freitagabend vom Flughafen in die City bringt. „Ja“, erwidert er. „Wir haben hier viele gut erhaltene alte Häuser. Einige wurden restauriert, andere noch nicht. Die Leute besuchen Riga wegen dieser Gebäude. Die Stadt ist wie eine Puppenstadt.“

Ist das jetzt positiv oder negativ gemeint? Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, setzt der Taxifahrer seinen Bericht fort: „Die normalen Leute leben außerhalb im Plattenbau. In der Altstadt kann sich kaum jemand eine Wohnung leisten – nur die Reichen. Aber hier hat niemand wirklich Geld. Man verdient sehr wenig, 800 bis 1000 Euro im Monat, damit kann man nicht viel machen, denn es ist alles fast genauso teuer wie in Deutschland.“ Wir schweigen betreten. „Kommen denn viele Touristen?“, fragt meine Freundin, vermutlich um ihn auf schönere Gedanken zu bringen. „Nein, niemand kommt mehr, alle haben Angst wegen Russland.“
Man kann es sich gut vorstellen. Viele Touristen sind wahrscheinlich besorgt, dass Russland hier demnächst genauso einfällt wie in die Ukraine. So ganz abwegig ist das ja auch nicht, schon zweimal in der Geschichte haben sich die Russen hier breitgemacht, um es mal etwas salopp auszudrücken.
Im Nordischen Krieg zwischen Schweden und Russland fiel Riga 1710 für annähernd zwei Jahrhunderte an Russland. Erst am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 konnte sich Lettland für unabhängig erklären – um wenig später im Zweiten Weltkrieg – beim sogenannten Hitler-Stalin-Pakt – genau wie Estland und später auch Litauen – der Sowjetunion „zugesprochen“ zu werden.
Der Taxifahrer fasst sich wieder und beschreibt uns die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke: das Schloss, die Daugava, das Theater… Unterdessen hänge ich meinen Gedanken nach. Ich bin etwas schockiert, ich wusste nicht, dass die Menschen hier so „zu knapsen“ haben. Als wir aussteigen, geben wir ihm ein extra großes Trinkgeld und er freut sich, als hätte er im Lotto gewonnen. Ein komisches Gefühl, mir behagt es nicht, dass ich hier sozusagen als „reiche Gönnerin“ auftrete, obwohl es aus meiner Sicht keinen Unterschied zwischen uns gibt menschlich gesehen – auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass die allermeisten Leute anders darüber denken, und ihnen ihr Status das Heiligste im Leben ist, um es mal offen auszusprechen. Auch hier zuhause werde ich für meine egalitäre Ader gerügt und als „sentimental“ und „naiv“ verspottet. Nun denn. Für den Taxifahrer ist das alles augenscheinlich gleichgültig. Alles was er ausstrahlt, ist Freude.





Am nächsten Morgen machen wir uns ein eigenes Bild von der Altstadt. Was der nette Mann erzählt hat, stimmt: prächtige historische Häuser, Kopfsteinpflaster, alles originalgetreu vorhanden… wirklich toll. In einer dieser Kaffeehaus-Ketten (diese heißt „Caffeine“: wie passend) mit lauter jungen Leuten an ihren Laptops kehren wir schließlich ein und nippen an unserem Cappuccino.




„Wie leer es hier ist“, meint meine Freundin nachdenklich. „Trotz des Regens sind die Straßen bei uns am Samstagmorgen belebter.“ „Das ist wahr“, pflichte ich ihr bei. “Vielleicht liegt es daran, dass die Touristenströme erst im Sommer einsetzen.“
Ich persönlich finde es ja großartig, das „echte“ Riga kennenzulernen und nicht das der Touris. Doch kann ich das nagende Gefühl nicht abschütteln, dass dies vielleicht auch mit dem – im Vergleich zu Deutschland – geringeren Wohlstand zusammenhängt, was irgendwie seltsam und bedrückend ist.
Wir haben noch etwas Zeit, bis meine Nichte kommt. Ich blicke durch das große Fenster auf das Kopfsteinpflaster und die schönen alten Häuser. Jetzt will ich es aber wissen: Wann ist diese Stadt denn nun entstanden und was haben Deutsche damit zu tun?
Die Deutschbalten

Laut Reiseführer waren deutsche Kaufleute die ersten, die in der Gegend von Riga ankerten und rege Handelsbeziehungen zu den baltischen Stämmen unterhielten. Mit ihnen kamen christliche Missionare, um die „Heiden“ zu bekehren. Der Bremer Bischof Albert von Buxthoeven segelte mit einer päpstlichen Bulle die Daugava hinauf, die das Gebiet „offiziell“ zum Kreuzzugsgebiet erklärte und die Missionierung legitimierte. 1201 gilt als das Gründungsjahr Rigas und vom Schloss aus trieb Albert von Buxthoeven gemeinsam mit dem von ihm initiierten Schwertbrüderorden die gewaltsame Christianisierung voran. Überall steht, dass die Missionierung nicht aus Glaubenseifer geschah, sondern oft nur ein Vorwand für die eigentliche Absicht war: die Eroberung und Kontrolle der Gebiete.
„Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gelangten die baltischen Stämme unter eine Jahrhunderte währende Fremdherrschaft“, heißt es im Merian Reiseführer (S.16). Es gab den Livländischen Krieg, den bereits erwähnten Nordischen Krieg und viele weitere Auseinandersetzungen. Beteiligt waren immer die Lettland umgebenden Mächte: Russland, Schweden, Polen, Litauen und zwischendrin irgendwo die Deutschen, die im 13. und 14. Jahrhundert vermehrt in die Stadt kamen: Als Handwerker und Kaufleute. Deutsche Bürgermeister dominierten den Stadtrat in Riga, während auf dem Land der deutsche Adel an der Macht war. Die Letten konnten kaum lesen und schreiben und übten vor allem Hilfstätigkeiten aus oder waren leibeigene Bauern oder Knechte. 1282 wird Riga Hansestadt, was sich im Stadtbild definitiv niederschlägt (Häuser der Großen und Kleinen Hanse, Schwarzhäupterhaus). „Trotz der militärischen Vorherrschaft des Ordens bestand ein labiles Gleichgewicht zwischen den auf funktionierende Handelsbeziehungen angewiesenen Parteien: Hanseatische Kaufleute verkauften Salz, Metalle und Textilien. Einfache Gewerke wie das Be- und Entladen von Schiffen und einige Handwerksberufe waren fest in lettischer Hand“ (Reiseführer „Riga, Tallinn, Vilnius“ von Volker Hagemann (Literaturliste siehe unten).
Die große Frage, die sich nun stellt: Wie schafften es die Letten schließlich, sich nach Jahrhunderten verschiedener Fremdherrschaften zu „emanzipieren“?
Nationales Erwachen – eine Frage der Bildung?
Deutsche Geistliche übersetzten die Bibel ins Lettische und leisteten so einen Beitrag zur Entwicklung der lettischen Schriftsprache. Kinder lettischer Bauern begannen in Schulen das Lesen und Schreiben zu lernen. 1801 wurde die Universität Tartu im heutigen Estland wiedereröffnet, zu der auch Letten Zutritt hatten. Johann Gottfried Herder (1744-1803), der zwischen 1764-1769 an der Rigaer Domschule lehrte, zeigte Interesse an den mündlich überlieferten Volksliedern der Letten. Er widmete sich der Übersetzung und Veröffentlichung einiger dieser als Dainas bekannten lettischen Vierzeiler, die einen tiefen Einblick in die lettische Kultur gewähren, einschließlich der Mythologie sowie verschiedener Bräuche und Riten.
Anmerkung: Herder verbrachte fünf Jahre in der Stadt als Lehrer und Pfarrer. Hier bei Deutschlandfunk habe ich einen interessanten Artikel über seine Zeit in Riga gefunden. Er sah sich als aufgeklärter Demokrat, hatte Mitleid mit dem Elend der (leibeigenen) lettischen Bauern und sprach sich auch öffentlich gegen ihre Ausgrenzung aus. Ein weiterer Aufklärer, Garlieb Merkel, schrieb das Buch „Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts“, das 1796 in Leipzig erschien. Dieses Buch ist eine der Grundlagen der lettischen Geschichtsschreibung (Wikipedia). Merkel bezog die deutlichste Position gegen die Willkürherrschaft, die die Deutschbalten von ihren Gütern ausübten, heißt es bei Volker Hagemann. Johann Gottfried Herder ist sogar ein kleiner Platz gewidmet, der Herder-Platz, ein Zeichen der Wertschätzung der Letten für seinen Beitrag zur Sammlung der Dainas. Letztlich wurde er damit zum Geburtshelfer des lettischen Nationalgefühls.
An dieser Stelle möchte ich kurz anmerken, wie erstaunlich ich es immer wieder finde, dass es auch in dunklen Zeiten(die z.B. geprägt waren von gewaltsamen Eroberungen), immer Menschen gab, die sich dagegen ausgesprochen haben. Darüber hinaus finde ich es seltsam, dass die „Herrscher“ selbst auch bei der Entwicklung des Volkes mitwirkten haben, also beispielsweise die deutschen Geistlichen, die den Letten das Lesen und Schreiben beibrachten. Wie seltsam, dass sie letztlich damit zum Nationalen Erwachen beitrugen, welches wiederum dazu führte, dass sie ihre Macht verloren und nicht mehr geduldet wurden.
Jungletten
Ortswechsel. Wir stehen in der Wohnung Alberta iela Nr. 12, dem heutigen Jugendstil-Museum und der früheren Wohnung des berühmten lettischen Malers Janis Rozentāls (1866-1917). 1904 zog er ein und wohnte hier bis zum Ersten Weltkrieg mit seiner finnischen Gattin Elli Forsell, einer Sängerin. Außerdem lebte hier als Untermieter zwischen 1906 und 1908 der lettische Schriftsteller Rūdolfs Blaumanis (1863-1908). Wichtige lettische und deutschbaltische Kulturleute gingen ein und aus, heißt es auf dem Infoblättchen des Museums.
Wer waren diese Menschen?, frage ich mich. Und wie ist dazu gekommen, dass aus leibeigenen Bauern und einfachen Arbeitern Schriftsteller und Maler wurden, also sozusagen Mitglieder einer kulturellen Elite?
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entflammte das Nationalbewusstsein, eine Zeit, die oft auch als „Nationales Erwachen“ bezeichnet wird. Der langsame Niedergang der Deutschbalten begann. Viele junge Menschen, deren Eltern noch Leibeigene gewesen waren, erhielten nun Zugang zur Universität Tartu. Es war eine deutschsprachige Hochschule, doch sie wurde stark vom Geist der Aufklärung getragen (Buch: Geschichte des Baltikums von Alexander Schmidt). Krišjānis Valdemārs (1825-1891) war der Erste, der sich als Student bei seiner Immatrikulation als „Lette“ einschrieb, ein damals unerhörter Akt, der jedoch vom Rektor akzeptiert wurde. Im Laufe der Zeit nannten sich immer mehr junge Menschen Letten, was bei den Deutschbalten Widerstand und Hohn hervorrief. Spöttisch nannte man sie „Jungletten“. Ein weitere herausragende Persönlichkeit war Krišjānis Barons (1835-1923), der etwa 36.000 Dainas sammelte und im so genannten Daina-Schrank archivierte – ein Werk eines Spezialschreiners, das heute als lettisches Nationalheiligtum gilt und in der Lettischen Nationalbibliothek ausgestellt ist. Darüber hinaus wurde 1856 eine Zeitung in lettischer Sprache gegründet „Mājas Viesis“ (Der Hausgast). Zwar gab es schon zuvor eine lettische Zeitung, aber diese war deutschfreundlich gewesen. Zudem traf man sich bei „lettischen Abenden“.
Lettisches Liederfest
1873 wurde das erste Lettische Liederfest veranstaltet, bei dem 45 Chöre teilnahmen. Die Tradition des Liedersingens ist bei den Letten seitdem fest verankert.
Anmerkung: Als Singende Revolution wird übrigens der gewaltlose Kampf um die Unabhängigkeit zwischen 1987 und 1991 bezeichnet. Immer wieder trafen sich die Letten in dieser Zeit bei friedlichen Demonstrationen und sangen ihre Dainas. Ein historischer Moment war der 23. August 1989, als genau 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt etwa zwei Millionen Menschen den “Baltischen Weg” bildeten – eine 600 Kilometer lange Menschenkette, die die heutigen baltischen Hauptstädte Tallinn (Estland), Riga (Lettland) und Vilnius (Litauen) verband. Diese Ereignisse gipfelten in der Proklamation der Unabhängigkeit Lettlands am 4. Mai 1990. Am 6. September desselben Jahres erkannte die Sowjetunion die Unabhängigkeit Lettlands, zusammen mit der von Litauen und Estland, offiziell an.
Die Russische Revolution 1905

Wir befinden uns wieder in der Wohnung des Malers Janis Rozentāls. 1904 zog er ein und blieb bis ca. 1914. Zwischen 1906 und 1908 lebte der Schriftsteller Rūdolfs Blaumanis hier als Untermieter. Genau in dem Jahr dazwischen (1905) fand im russischen Kaiserreich, also auch in Riga und im heutigen Lettland, die Russische Revolution statt: Was sich gegen zaristische Willkür richtete und als Arbeitskampf mit Protesten gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen begann, endete auch im heutigen Lettland in blutigen Aufständen, bei denen deutschbaltische Gutshäuser abgebrannt und deren Besitzer ermordet wurden. Auch deutsche Pfarrer, Ärzte oder Lehrer wurden umgebracht. Die Revolution scheiterte, aber wir befinden uns in dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Ablehnung gegen die Deutschbalten. Die Deutschbalten, mit denen Janis Rozentāls und Rūdolfs Blaumanis verbandelt waren (wie im Museum geschildert), müssen folglich progressiver eingestellt gewesen sein als der Adel und die machthabenden Deutschbalten.
Zweite Generation der Jungletten
Rūdolfs Blaumanis war einer der bekanntesten Schriftsteller und Dramatiker Lettlands. Seine sozialkritische Stücke sorgten für Aufsehen. Die Theaterstücke behandelten u.a. die Probleme des bäuerlichen Lebens in Lettland. In der „Nachfolge“ der ersten Jungletten hatte sich eine neue Richtung gebildet, die „Neue Strömung“. In ihr erwachte auch zum ersten Mal die lettische Arbeiterklasse. Eine besondere Stellung nahm darin Aspazija (1865-1943) ein, die eigentlich Elza Pliekšāne hieß und ebenfalls Dichterin war. Sie übte damals schon Kritik an der patriarchalen Gesellschaft, was – wie man sich vorstellen kann – öffentliche Diskussionen hervorrief. Verheiratet war sie mit dem berühmten Schriftsteller Rainis (eigentlich: Jānis Pliekšāns (1865-1929)). Er schrieb literarische Stücke, arbeitete aber auch als Redakteur und Übersetzer. Das Organ der Neuen Strömung war die seit 1886 in Riga erscheinende Zeitung Dienas Lapa.

Ich stelle fest: All diese schönen Jugendstil-Häuser in der Alberta iela und den andere Straßen wurden zu dieser Zeit offenbar nicht nur von den herrschenden Deutschbalten bewohnt, sondern auch von sich emanzipierenden Letten. Das beruhigt mich irgendwie, vor allem, wenn ich daran denke, was der Taxifahrer gesagt hat.
Und was schlussendlich bei all diesen Kämpfen und Bemühungen herauskam: Die erste Unabhängigkeitserklärung Lettlands am Ende des Ersten Weltkriegs!
… um wie schon erwähnt zwanzig Jahre später wieder von Russland eingenommen und für Jahrzehnte besetzt zu werden…
Schluss
Vor der Abreise nach Hause betrachte ich eins der Häuser, die der Taxifahrer als Puppenhaus bezeichnet hat, ein allerletztes Mal, diesmal im Hellen.

Ich denke plötzlich, dass Taxifahrer manchmal klüger sind als der Rest der Welt. Und ich denke, dass es ja eigentlich alles immer ganz einfach ist und man sich nur fragen muss, ob man es selbst gut fände, wenn da plötzlich ein anderer kommt und die Macht über mich, meine Sprache, meine Kultur und mein Land übernimmt… Und ich denke: Zumindest ist etwas dabei entstanden, was wenigstens zum heutigen Zeitpunkt für die Letten nützlich ist: Nämlich diese Puppenstadt – eine Kulisse, die Menschen aller Nationen heutzutage dazu bringt, hierher zu kommen.
Und ich wünsche dieser Puppenstadt, dass noch weiter Scharen an Touristen kommen, die hier trinken, essen, shoppen, ins Museum gehen, alles über das Land und sich selbst erfahren und hoffe immer noch, dass wir Menschen auf der Welt es schaffen, es eines Tages alles anders zu halten.
Infos
Literaturliste:
- Merian Reiseführer Riga: Christiane Bauermeister, 1. Auflage 2020
- Riga, Tallin, Vilnius: Volker Hagemann, 3. Auflage 2016
- City Trip Riga: Martin Brand und Robert Kalimullin, 5. Auflage 2020
- Estland, Lettland, Litauen: Marianna Butenschön, 1. Auflage 1992
- Geschichte des Baltikums: Alexander Schmidt, 1. Auflage 1992


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