Backsteinexpressionismus in Gelsenkirchen: Das Hans-Sachs-Haus

Vorab: Unterschiedliche Strömungen in der Architektur

Es ist nicht immer ganz einfach, die unterschiedlichen Stilrichtungen in der Architektur zu erfassen, denn vieles überschneidet sich und ist nicht so klar voneinander abzugrenzen, wie wir das oft gerne hätten. Das betrifft auch die Zeit der 1920er-Jahre, als verschiedene (und sich teilweise bekämpfende) Auffassungen über das Bauen herrschten. Heutzutage unterscheidet man sie, indem man Begrifflichkeiten definiert und zum Beispiel von Neuer Sachlichkeit, Expressionismus oder dem Heimatschutzstil spricht. Im Prinzip sind es alles Varianten der architektonischen Moderne, welche sich mit der Arts-and-Crafts-Bewegung zu entwickeln begann und den Historismus überwand. Eine schöne Übersicht über die Stilepochen der Moderne (und alle anderen) findet man hier bei Wikipedia.

Hans-Sachs-Haus

Nun zu meiner neuesten Entdeckung: Das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen (Namensgeber ist Hans Sachs, ein Dichter und Meistersinger aus dem 16. Jahrhundert) ist ein Beispiel für den Backsteinexpressionismus, einer besonderen Form des Expressionismus, die sich – wie der Name schon verrät- durch die Verwendung von Backsteinen und Klinkern auszeichnet. Das Gebäude wurde vom Architekten Alfred Fischer erdacht und in den Jahren zwischen 1924 und 1927 errichtet. Es beinhaltete Büros für die städtische Verwaltung, aber auch eine Stadtbücherei mit Lesesaal, ein Café und ein Hotel im Turm, es war also für eine Mehrfachnutzung vorgesehen.

Stilistisch gesehen ist es aber etwas kniffelig, denn reinen Backsteinexpressionismus verkörpert dieses Gebäude eben auch nicht. Es wird „als Bindeglied zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit gesehen, da es einerseits gebrannten Klinker (das charakteristische Merkmal des Backsteinexpressionismus) verwendet, andererseits in seiner Formensprache dem Bauhaus und der Stromlinienmoderne nahesteht“ (www.vielfaltdermoderne.de). Die Stromlinienförmigkeit kann man hier gut sehen:

Unterschiede zwischen Backsteinexpressionismus und Neuer Sachlichkeit

Doch worin unterscheiden sich Expressionismus und Neue Sachlichkeit eigentlich? Das Wesentliche des Expressionismus scheint vor allem die ornamentale Formensprache zu sein, das heißt, es wurden spitze oder scharfkantige Gestaltungselemente benutzt, welche die Spannungen der Zeit (Weimarer Republik) widerspiegeln sollten. Die Verfechter der Neuen Sachlichkeit hingegen waren strikt gegen die Verwendung von Ornamenten, die Zweckhaftigkeit sollte im Mittelpunkt stehen, auch um das Problem der damaligen Wohnungsnot zu lösen.

Sanierung durch das Architekturbüro gmp (Gerkan, Marg und Partner) in den Jahren 2009-2013

Im Jahr 2001 beschloss die Stadt Gelsenkirchen, das Hans-Sachs-Haus zu sanieren, doch man fand Baumängel (teils aus den 1920er-, teils aus den 1950er-Jahren), die die Kosten in ungeahnte Höhen trieben. Nach verschiedenen sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen unterschiedlicher Gruppen (alles hier bei Wikipedia nachzulesen), entschloss man sich 2005 zum Abriss. Dieser konnte durch ein Bürgerforum und 10.000 Unterschriften zur Rettung des Gebäudes verhindert werden. Schließlich entschied man, das Innere komplett zu entkernen, aber die denkmalgeschützte backsteinexpressionistische Fassade und den Turm zu erhalten. Auf der Rückseite öffnet sich das Gebäude durch eine riesige Glasfassade zum Alfred-Fischer-Platz. Heutzutage befinden sich im Hans-Sachs-Haus die Stadtverwaltung, das Bürgercenter und eine Touristeninformation.

Rückseite mit Glasfassade

Fazit

Meine Fotos können leider nicht ganz wiedergeben, wie imposant und schön das Hans-Sachs-Haus tatsächlich ist. Ich war jedenfalls beeindruckt, als ich um die Ecke bog und sah, wie es gegenüber vom ersten Hochhaus Gelsenkirchens (dem Iduna-Haus) geradezu majestätisch an der Ebertstraße thront, mit Blickkontakt zur Altstadtkirche aus den 1950er-Jahren, inmitten des wunderbaren Chaos aus Häusern der Nachkriegsmoderne und des Historismus, wie es vielen Städten des Ruhrgebiets zu eigen ist. Es hat sich definitiv gelohnt, dieses Gebäude zu erhalten! Weitere Infos, z.B. zum weltweit einzigartigen Farbleitsystem, verlinke ich in den Infos unten.

Links das Iduna-Haus, im Hintergrund die Altstadtkirche

Infos

  • Eine Broschüre („Klare Linien, runde Ecken“) zum Hans-Sachs-Haus kann man sich hier bei der Stadt Gelsenkirchen herunterladen, dort gibt es auch die Infos zum Farbleitsystem und Fotos aus den 1920er Jahren.
  • Infos zur Architektur findet man bei www.baukunst-nrw.de und bei www.vielfaltdermoderne.de
  • Weitere Infos zum Backsteinexpressionismus in Gelsenkirchen gibt auf dieser Seite der Stadt Gelsenkirchen. Zwanzig Gebäude werden in einer Broschüre vorgestellt, die man sich dort herunterladen kann.

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