Wow, denke ich als ich um die Ecke biege und reibe mir verwundert die Augen. Da ist doch definitiv Jugendstil mit dabei! Das hätte ich nicht erwartet. Ob er mich extra hierher geschickt und die „Wolfsburg“ als Überraschung geplant hat?

Was für eine beeindruckende Freitreppe! Und die vielen tollen Sprossenfenster… Vor allem aber die Ornamente drumherum! Das muss doch Jugendstil sein!


Hastig krame ich mein Smartphone aus der Tasche. Ha! Hier steht es: Jugendstilelemente. Und: „Die schönen Jugendstilfassaden konnten, so wie es der Denkmalschutz erhoffte, erhalten werden.“ Wusst‘ ich’s doch! Na, da hat sich der kleine Ausflug aber gelohnt. Doch von vorne…

Es gibt ja immer wieder nette Menschen, die einen mit guten Tipps versorgen. Ein architekturbegeisterter Hinweisgeber mit einem ganz tollen eigenem alten Haus schickte mich ins Grenzgebiet zwischen Duisburg und Mülheim an der Ruhr, genauer gesagt in den Mülheimer Stadtteil Speldorf, der an den Duisburger Stadtwald grenzt. Dort sollte ich mir in Waldesnähe „ein paar schöne Häuser“ angucken. Die „schönen Häuser“ stellten sich sogar als villenartige Gebäude heraus. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie vielseitig das Ruhrgebiet ist! Es gibt eben nicht nur Hauptbahnhöfe und andere leider oft unwirtliche Orte, sondern auch schöne ruhige und fast ländlich wirkende Gegenden. Diese hier liegt zudem an einer kleinen Anhöhe, alles sehr idyllisch.
Von einem anderen Ausflug mit Hubby und Hund weiß ich zudem, dass es etwas weiter südlich noch ein ganzes Stück so weitergeht mit der ländlichen Atmosphäre und den interessanten Häusern. Längs des Uhlenhorstwegs und der Großenbaumer Straße stehen ein paar imposante Industriellen-Villen, wie die Villa Anita von Fritz Thyssen. Doch zurück zur Wolfsburg. Die hatte mein netter Tippgeber nämlich nicht erwähnt. Vielleicht sollte ich sie selbst entdecken?
Die Wolfsburg
In der Wolfsburg befindet sich heutzutage (genau genommen seit 1960) eine Akademie und ein Tagungshaus des Bistums Essen. Erbaut wurde sie 1906 und als Kur- und Waldhotel genutzt. Der Name geht wahrscheinlich darauf zurück, dass im angrenzenden Wald bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts Wölfe umherstreiften.
Bis zum ersten Weltkrieg herrschte hier reger Ausflugsbetrieb. „Man wanderte am Nachmittag zur Wolfsburg; von der Monning (Straße) aus konnte man sich von Eseln zur Wolfsburg hinauftragen lassen; das war eine Attraktion, an die sich vor allem Kinder noch lange erinnerten. Im Jahre 1911 erfolgte ein Umbau des Gebäudes. Der Saal wurde erweitert, die Veranda teilweise zu einem Wintergarten umgestaltet. Der Nordwestflügel bot nun Platz für eine Orchesterbühne, so dass von hier aus zum Tanz aufgespielt werden konnte“ (Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr).

Gartenstadt-Bewegung
Das ganze Gebiet und seine Bebauung haben mit der so genannten Gartenstadt-Bewegung zu tun. Diese entstand ursprünglich in England und war eine Reaktion auf die schlechten Wohnverhältnisse während der Industrialisierung. Auch in Mülheim sehnte man sich nach Natur und frischer Luft. Dort gründete sich im Jahr 1906 die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG (der Wald heißt hier Broich-Speldorfer Wald, er ist aber eigentlich derselbe wie der oben genannte Duisburger Stadtwald, d.h. es handelt sich um ein zusammenhängendes Waldgebiet). Die Zielgruppe der Broich-Speldorfer Wald und Gartenstadt AG war allerdings das gehobene Bürgertum und Großindustrielle; mit der ursprünglichen Gartenstadt-Idee, in der es eine soziale Durchmischung gibt und auch das „Industrieproletariat“ einen Platz hat, hatte es nichts zu tun. Stattdessen sollten die „Gutbetuchten“ dem Lärm und Schmutz der Stadt entfliehen.
Insgesamt entstanden durch die Tätigkeit der Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG dann aber nur drei große Landhäuser und einige kleinere Villen am bereits oben genannten Uhlenhorstweg und am Worringer Reitweg (das kann man alles hier beim Mülheimer Geschichtsverein nachlesen). Weitaus mehr Erfolg hatte das oben beschriebene Villenviertel an der Prinzenhöhe und am Kahlenberg. Die Gartenstadt-Bewegung, die übrigens auch in Zusammenhang mit den Ideen der Lebensreform-Bewegung steht (siehe Artikel zur Ausstellung in der Bundeskunsthalle hier), hat einige interessante Orte hervorgebracht. Die bekannteste Gartenstadt befindet sich in Dresden-Hellerau. Im Ruhrgebiet kennt wohl jeder die Margarethenhöhe in Essen. Ein interessantes Radio-Feature zum Thema (auch als Leseversion) findet man hier (Deutschlandfunk Kultur).




Fazit
Ich finde es auf jeden Fall toll, dass eins der Häuser, nämlich die Wolfsburg, damals wie heute für die Allgemeinheit zugänglich ist. Und dass vom ursprünglichen Gebäude zumindest die Fassaden an der West- und an der Südseite weitestgehend erhalten werden konnten (ein altes Bild von der Wolfsburg findet man hier). So können wir uns heute noch an den kreativen Ideen und dem Anblick erfreuen, den die Menschen vor gut 120 Jahren erschaffen haben. Und uns vorstellen, wie die Kinder damals mit dem Esel ankamen, wie getanzt wurde und vermutlich eine heitere und ausgelassene Stimmung herrschte. Da passt doch die Verspieltheit des Jugendstils ganz gut, oder? 🙂
Infos
- Die Geschichte der Wolfsburg auf der Webseite des Tagungshauses Die Wolfsburg
- Infos über die Wolfsburg auf der Webseite des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr (mit zwei alten Bildern)
- Beschreibung der Wolfsburg in der Denkmalliste der Stadt Mülheim an der Ruhr
- Infos über die Broicher-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG auf der Webseite des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr
- „Was aus der Gartenstadt-Idee geworden ist“ (Interessanter Artikel/Radiofeature bei Deutschlandfunk Kultur)


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