„Schau doch mal!“, kreische ich begeistert. „Das muss das Ernst-Ludwig-Haus sein!“
Schon von hier aus kann man das monumentale Portal bestaunen.
„Das haben wir gerade nur von hinten gesehen, weil wir falsch herum gelaufen sind! Guck doch mal, wie toll das aussieht! Richtiger Jugendstil“, rufe ich beglückt, und die Rentner, die eben an uns vorbeigegangen sind, vertieft in ihre Gespräche, blicken sich peinlich berührt nach mir um.
Der werte Gatte dreht sich weg und tut so, als gehöre er nicht zu mir.
„Ist ja schon gut!“, grummelt er leise. „Hier noch ein Foto vom Hund vielleicht, wir haben doch erst Tausend davon?“, schlägt er sarkastisch vor und weist auf die Treppenbrüstung.
Oh je, da ist er ja wieder, der Grumpy Hubby! Er scheint immer dann aufzutreten, wenn ich besonders begeistert bin. Wenn ich nicht begeistert bin, ist er auch nicht mürrisch. Egal, ich habe jetzt absolut keine Zeit für ihn. Da sind ja auch die Künstlerhäuser! Ein kleiner Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
Mathildenhöhe Künstlerhäuser
Das muss das Große Haus Glückert sein, daneben das Kleine Haus Glückert. Sie erscheinen mir beide leicht, verspielt und irgendwie lustig. Teilweise erinnern mich die Formen an Hexenhäuschen aus Märchen, sind es vielleicht die ungewöhnlichen Dachformen, Schildgiebel genannt? Auf jeden Fall bringen sie mich zum Lächeln.


Wir nehmen uns ein Künstlerhaus nach dem anderen vor und entdecken immer neue Details: Ein rundes Portal mit vergoldeter Ornamentik. Ein mit stilisierten Blattmotiven geschmücktes Eingangstor. Der Höhepunkt an Verspieltheit: Der sechseckige Dachaufsatz mit flankierenden Rundtürmchen des Hauses Deitert. Asymmetrisch verteilte Fenster und ein ovales Eingangsportal. Also dieses Haus bricht wirklich mit jeglicher Sehgewohnheit. Einfach irre, wie das aussieht! 😀
Dieser Joseph Maria Olbrich scheint ja sehr viel Humor gehabt zu haben…






Haus Olbrich – sein eigenes Haus – wirkt hingegen gar nicht so außergewöhnlich bis auf den blau-weißen Kachelfries.
Eleganter mutet das Haus Behrens an, das einzige Haus, das Peter Behrens entworfen hat. Es ist derzeit leider komplett unter einer Schicht aus Abdeckplanen verborgen. Aber in der Mitte blitzt die Tür hervor, total schick. Es sieht auf den Fotos auf der Webseite insgesamt bodenständiger, villenhafter aus mit dem rotbraunen Eisenklinker und den grünlasierten Ziegeln, nicht so leichtfüßig wie die anderen weißen Häuser, die ein bisschen so scheinen, als könnten sie im nächsten Moment davonfliegen. Wohl deshalb gilt Behrens als Antipode zu Olbrich.
Aber schön finde ich die Olbrich-Häuser trotzdem! Als wäre man in einer anderen, verträumteren, poetischeren Welt. Da passt es ja irgendwie, dass die „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ in einem von ihnen beheimatet ist, im Großen Haus Glückert, wie ich auf dem Baustellenschild lese.
Das Atelierhaus für die Künstler
Als Nächstes schauen wir uns das Ernst-Ludwig-Haus an. Es war das zentrale Gebäude der ersten Kunstausstellung auf der Mathildenhöhe im Jahre 1901. Es besaß Werkräume und war als Atelierhaus für die Künstlerkolonie gedacht. Der Eingang wirkt sehr monumental, die beiden Figuren „Kraft“ und „Schönheit“ des Bildhauers Ludwig Habich sind sehr groß. Deutlich wird hier auch, was ich bei Stefanie Lieb gelesen habe: Dass man innerhalb der Jugenstilornamentik zwischen einer „organisch-biomorphen“ (z.B. mit Pflanzenmotiven) und einer „geometrisch-kubischen“ Formgebung differenzieren müsse. Wobei der ersten Gruppe u.a. die belgische, französische und deutsche Richtung zuzurechnen ist (was man auf den ersten Blick bei meinen Brüssel-Fotos erkennen kann), während die zweite Gruppe der schottische Jugendstil (Charles Rennie Mackintosh) und die österreichische Schule bilden. Hier ist für mich die Herkunft Olbrichs aus der österreichischen Gruppe zu erkennen mit den Kreisen und den kleinen Quadraten und ich kann mich nicht entscheiden, ich finde beide Richtungen sehr reizvoll.
Es gab insgesamt vier Ausstellungen auf der Mathildenhöhe zwischen 1901 und 1914 und da bei der ersten kritisiert worden war, dass die Häuser nur für eine gehobene Klientel seien, baute man auf der Dritten Ausstellung, der „Hessischen Landesausstellung für freie und angewandte Kunst“ 1908 eine Kleinwohnungskolonie für die weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Insgesamt rief die allererste Ausstellung 1901 übrigens sowohl Begeisterungsstürme als auch totale Ablehnung hervor. Wirklich neu war der Jugendstil zu dem Zeitpunkt nicht mehr, schon vorher hatte man ihn überall in den Städten und in den Kaufhäusern gesehen, schreibt Wolfgang Pehnt in seinem Buch „Deutsche Architektur seit 1900“. Was aber wirklich absolut neu war, war die Konzeption als Gesamtkunstwerk. Es war eben nicht wie sonst eine „Messe“, bei der Produkte ausgestellt wurden, sondern es waren zum ersten Mal echte Häuser zu sehen, die voll eingerichtet waren, sozusagen die erste „Fertighausausstellung“ der Welt. Natürlich nur für ein gehobenes Publikum, aber so etwas hatte es dennoch vorher noch nie gegeben. Die Häuser waren ursprünglich für die Künstler gedacht, aber nicht alle konnten sie sich leisten. So gingen zwei von ihnen in den Besitz von Möbelfabrikanten. Die Künstler bekamen vom Großherzog einen 3-Jahresvertrag mit einer Art Basisgehalt, das sie durch den Verkauf ihrer Kunst und Kunsthandwerk „aufstocken“ sollten.
Erlösung durch Kunst, Schönheit und Liebe: Bloß eine unrealistische Utopie?
Wir gehen erneut eine Runde um das gesamte Mathildenhöhen-Ensemble herum und entdecken noch weitere Gebäude, u.a. das Oberhessische Haus und das für mich persönlich spannendere Ateliergebäude von Albin Müller, dessen Nordseite (die wir nicht sehen) schon sehr viel von der kommenden Moderne hat, was man auf der Webseite der Mathildenhöhe sehr gut erkennen kann. Große Fensterflächen auf ansonsten schlichter Fläche erinnern mich sehr an die Bauhaus-Optik in Dessau. Auch das Ernst Ludwig-Gebäude und die anderen Häuser weisen laut des Direktors der Mathildenhöhe schon viele Elemente der Moderne auf. „Die Mathildenhöhe ist einzigartig als Ensemble, in dem Sie sehen können, wie das 19. Jahrhundert in das 20. Jahrhundert übergeht. (… ) Einfache Strukturen, Reduzierung der Ornamentik, all das ist hier zu sehen wie nirgendwo auf der Welt. Das zentrale Gebäude ist das Ernst-Ludwig-Haus. (…) Wichtig sind hier die Flächen links und rechts von dem Portal. Da sehen Sie ornamentlose Flächen, da sehen Sie, wie modern diese Häuser schon konzipiert sind. Sie sollen nicht nur dekorativ und schön sein, sondern funktional.“ (Hier das ganze Video.) Total spannend, oder? Das war mir vorher nicht klar, dass wir hier quasi die Schnittstelle zwischen Jugendstil und Moderne sehen können! Ich bin absolut begeistert.
Zum Abschluss laufen wir noch einmal von der Westseite auf den Hochzeitsturm zu, was einen sehr schönen Blick auf alles ermöglicht. Auch das Ausstellungsgebäude (ebenfalls von Olbrich konzipiert) ist von hier aus viel besser zu sehen. Das Museum Künstlerkolonie mit der Ausstellung über Raumkunst sparen wir für uns für ein anderes Mal auf.


Wir trotten langsam in Richtung Parkplatz zurück. Ich bin wirklich beeindruckt. Diese teils lustigen Künstlerhäuser und das Portal vom Ernst-Ludwig-Haus das so anders aussieht, als das, was wir gewohnt sind… Wahnsinn. Toll, dass das alles noch steht und ab 2021 der Wert dieser ganzen Anlage als Welterbe von der UNESCO anerkannt wurde. (Es gibt 51 Welterbe-Stätten in Deutschland insgesamt, darunter der Aachener Dom, die Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin und die Zeche Zollverein in Essen.)
Vortex-Garten
„Schau mal, gehört das auch noch dazu?“, unterbricht der Hubby meine Gedanken.
Wir stehen vor einer Villa unterhalb der Russischen Kapelle. Schilder weisen auf den „Vortex Garten“ hin. Zögerlich treten wir durch das Tor, ob Hunde hier überhaupt mit rein dürfen?
Ein mittelalter Mann tritt aus der Villa, ich frage ihn nach dem Hund.
„Hunde sollen hier freilaufen“, erwidert er und weist auf das Schild, das am Eingang des Gartens steht.
„Wie bitte?“ Zum dritten Mal an diesem Tag läuft mir ein leichter Schauer den Rücken runter. Erst diese wunderschönen Häuser, jetzt auch noch eine Regel, die alle konventionellen Regeln durchbricht: Hundefreilauf auf einem engen und unübersichtlichen Gelände, wo einem ständig jemand entgegenkommen kann. Wo gibt es denn so was?



Wir staksen über eiförmige Trittsteine in einen lauschigen Garten, der nach den Prinzipien der Permakultur und des Gleichgewichts natürlicher Öko-Systeme angelegt ist. Man spürt sofort, dass er was Besonderes ist, ein Ort der Ruhe und Entspannung. Es ist der einzig öffentliche Garten Darmstadts in Privatbesitz und der Eigentümer möchte ihn als „Ort der Lebendigkeit, der Erneuerung und der Erholung“ zugänglich machen. Vortex sind Wirbel oder Wirbelbewegungen und genauso fühle ich mich hier. Man wird immer weiter hineingezogen in einen Wirbel aus Natur und Kunstwerken. Es wirkt belebend nach der Besichtigung der Mathildenhöhe, wie ein erfrischendes Bad für den Geist und den Körper.
Könnte man auch anderswo solche unkonventionellen Dinge einführen? Unfassbar, was möglich ist, wenn man mal die gewohnten Wege verlässt. Und das findet hier nicht nur im sprichwörtlichen Sinne statt…


Mir fällt ein, was in dem Buch über Jugendstilarchitektur stand. Die Jugendstilkünstler hätten ein utopisches Anliegen gehabt: die Erlösung der Menschheit durch Kunst, Schönheit und Liebe.
Erlösung ist natürlich ein großes und pathetisches Wort. Es bedeutet: die Menschheit von allem Negativen zu befreien. Aber ist das, was ich hier heute erlebt habe, nicht letztlich nicht genau das prinzipiell? Ich habe meinen Alltag komplett vergessen und habe die Schönheit der Kunst erfahren. Alles Negative war – zumindest für einen Augenblick lang – verschwunden. Also hat doch irgendwie im übertragenen Sinne zumindest für einen kurzen Moment eine Art Erlösung stattgefunden. Ist das nicht großartig? Die Jugendstilkünstler haben ihr Ziel doch noch erreicht. Bei mir hat es gewirkt, was sie sich gedacht haben vor über 120 Jahren. Ich finde das wirklich bemerkenswert! Dass man mit Architektur und Kunst so etwas schaffen kann! Vielleicht würde man es heutzutage bloß anders bezeichnen, als „Moodchanger“ oder so.
Ich möchte abschließen mit einem Gedicht, dessen zweite Strophe in der ersten Ausgabe der Wochenschrift „Jugend“ benutzt wurde, der „Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben“ (erschienen zwischen 1896 bis 1940), auf deren Name die Bezeichnung Jugendstil zurückzuführen ist.
In dem Gedicht geht es darum, Jugend als eine Art Geisteszustand zu betrachten, egal wie alt man ist.
Anstatt den jugendlichen Körper bewahren zu wollen, wie wir es in unserer heutigen Zeit so übermäßig tun, einen jugendlichen Geist zu pflegen, der immer noch über die Wunder der Welt staunt. Das ist doch ein wunderschöner Gedanke. Und wenn das das Wesen des Jugendstils ist, dann bin ich absoluter Fan davon.
In diesem Sinne bis zum nächsten Mal… 🙂
„Der Jugend sei mein Gruß geweiht –
Der Jugend, die niemals veraltet
Die unberührt von Stunde und Zeit
Im Künstlerbusen waltet.
Der Jugend, die aus der Seele stammt,
Und die trotz weisser Haare
Für alles Grosse sich noch entflammt
und Schöne und Gute und Wahre.
Der Jugend, die ewigen Frühling schafft.
Uns drinnen tief im Herzen
Und deren heilige Kraft entrafft
All irdische Sorgen und Schmerzen.
Der Göttin, die uns Kindern gleich –
Doch kindisch nie – lässt werden,
Damit wir schauen das Himmelreich
Schon hier auf dieser Erden.
Die ob im Grabe mit einem Fuß –
Noch schwebt auf den Schwingen des Falters
Ihr bring ich jubelnd einen Gruß –
Der Jugend jeden Alters
Und macht sich ihr manch Gegner kund-
Sie bleibt doch unbezwungen
Von grünlackierten Greisen und
Von schimmelgrauen Jungen!
Dem Erstern von diesem Feindespaar
Mit Fäusten, emsig-raschen
Wird sie das fahle Antlitz klar
Von falscher Schminke waschen
Dem andern aber wird sie kühn
Durch einen kräftig derben
Handgriff die Höschen strammer ziehn
Sie rücklings… aufzufärben.“
Richard Schmidt-Cabanis
Literatur:
- Stefanie Lieb: Was ist Jugendstil
- Wolfgang Pehnt: Deutsche Architektur seit 1900
- Klaus-Jürgen Sembach: Jugendstil
Infos:
- Mathildenhöhe, Olbrichweg 15, 64287 Darmstadt
- Auf der Mathildenhöhe selbst befinden sich keine Parkmöglichkeiten, wir haben am Jugendstilbad, Mercksplatz 1 geparkt und sind von da an ca. 800 m gelaufen
- Mehr Infos zum Besuch hier auf der Tourismus-Seite der Stadt Darmstadt
- Hier nochmal die offizielle Seite der Mathildenhöhe
- Vortexgarten














