Jugendstil in Hagen (Teil 1) – Der Hohenhof von Henry van de Velde, ein Gesamtkunstwerk und „Iconic House“

Wer sich für den Jugendstil in der Architektur interessiert, sollte – anders als ich – nicht damit anfangen, irgendwelche historistischen Häuser mit Jugendstil-Dekor in schönen Altbauvierteln zu betrachten, sondern besser als allererstes nach Hagen fahren!

Hier ist alles sichtbar: Der Ursprung des Jugendstils in der Arts-and-Crafts-Bewegung, die fließenden Linien, aber auch schon das sich andeutende Schlichte und Reduzierte der darauffolgenden Moderne. Es ist, als ob an diesem Ort alle Fäden zusammenlaufen. Das liegt daran, dass es genauso gewollt war von dem Mann, der hier verschiedene Bauten (und das modernste Museum seiner Zeit) geschaffen hat, die die Stadt zu einem der wichtigsten Orte des Jugendstils machten, was auch als „Hagener Impuls“ bezeichnet wird.

Hohenhof Hagen Gartenseite

Es handelt sich um den Mäzen und Kunstsammler Karl Ernst Osthaus (1874-1921), einer der spannendsten und bedeutendsten Menschen jener Zeit. In dem Buch „Zwischen Tradition und Moderne. Jugendstil und mehr in Hagen“, erschienen im ardenkuverlag 2019, heißt es: „Die Villenkolonie in Hohenhagen, deren verwirklichte Bauten in knapp zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, sollte nach der Vorstellung von Osthaus ‚zu einer Art Freilichtmuseum für moderne Baukunst, Malerei und Plastik zugleich werden‘.“ (S.117).

Und genau das merkt man, wenn man den Hohenhof besichtigt. Für mich fühlt es sich so an, als stünde ich inmitten meiner Leib-und-Magen-Themen „Jugendstil und Moderne“ und als wäre ich in der anfänglich mir innewohnenden Frage – nämlich wie ich eigentlich so Unterschiedliches toll finden kann -, in einer Art materialisierten Beantwortung angekommen. Und deshalb wundert es mich überhaupt nicht, dass dieses Gebäude in die Liste der historisch bedeutsamen Häuser, welche der Öffentlichkeit als Museum zugänglich sind, aufgenommen wurde (Iconic Houses.org). Es ist ein absolutes „Highlight-Haus“. Doch von Anfang an.

Hohenhof, Gartenseite

In Hagen gibt es verschiedene Orte, die wichtig und interessant sind. Einer davon ist der Hohenhof in Hagen-Eppenhausen, das zwischen 1906 und 1908 erbaute Landhaus für Karl Ernst Osthaus und seine Familie. Man kann ihn nur samstags und sonntags besichtigen. Darüber hinaus gibt es öffentliche Führungen, für die man sich per Telefon anmelden muss, die sich aber sehr lohnen (hier zu finden). Neben dem Hohenhof bekommt man in der Führung auch die nahegelegenen Häuser in der Straße am „Stirnband“ gezeigt, ähnlich wie in Darmstadt als Künstlerkolonie gedacht mit neun für Künstler konzipierte Häuser. Und man kommt an der Villa Cuno vorbei, der von Peter Behrens entworfenen Villa für den damaligen Bürgermeister Willi Cuno.

Insgesamt hatte Karl Ernst Osthaus aber noch weitaus mehr geplant. Er wollte eine Gartenstadt bauen lassen, wo Künstler alles „aus einem Guss“ gestalten sollten, ein Gesamtkunstwerk eben, genau wie der Hohenhof. Alles sollte der Schönheit dienen. Doch sein früher Tod ließ diese Pläne scheitern.

Hohenhof

Ein Besuch des Hohenhofs lohnt sich wirklich. Allein die Eingangshalle und das Empfangszimmer, das quasi um das Gemälde „Der Auserwählte“ von Ferdinand Hodler (1853-1915) entworfen wurde, sind für Jugendstil-Liebhaberinnen und -Liebhaber eine Augenweide. Der gesamte Komplex ist nicht – wie beispielsweise die Villa Hügel – auf Repräsentation angelegt, sondern es ging darum, ein auf die Bewohner zugeschnittenes Wohnhaus zu entwerfen, das im Gegensatz zum Historismus eine Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität darstellte, mit viel Licht und Luft und Sauberkeit (bessere hygienische Verhältnisse durch die damaligen technischen Neuerungen), aber auch einer schmucken Eleganz (siehe Fotos).

Beleuchtung im Salon

Sowohl das Haus als auch die Inneneinrichtung hat Henry van de Velde (1863-1957) entworfen, der Belgier, dessen Kreationen mir bereits in Brüssel begegnet sind, siehe Blogartikel hier. Doch weiter zum Bauherrn.

Karl Ernst Osthaus: Mäzen, Kunstsammler und Gründer des Folkwang-Museums

Karl Ernst Osthaus 1903, gemalt von Ida Gerhardi (1862-1927), zu sehen im Osthaus Museum in Hagen

Wahnsinnig spannend finde ich den Menschen, der hinter diesem „materialisierten Jugendstil-Traum“ steckt: Ein Industriellensohn aus Hagen, einer Stadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets, nahe Dortmund gelegen, zur damaligen Zeit verrußt und von rauchenden Schloten geprägt. Zahlreiche stahlverarbeitende Unternehmen hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Bahnhofs angesiedelt, heißt es in der überaus empfehlenswerten Biografie über Karl Ernst Osthaus und seine Frau Gertrud von Rainer Stamm und Gloria Köpnick (C.H.Beck, 2022).

Der Großvater mütterlicherseits – Bernhard Wilhelm Funcke (Gründer einer Schraubenfabrik), war „eine der wichtigsten Unternehmerpersönlichkeiten und wesentlicher Motor der Frühindustrialisierung in Hagen“ (S. 12 „Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt“).

Die Mutter von Karl Ernst Osthaus war bei seiner Geburt gestorben und der Vater, ein Bankier, heiratete ihre Schwester und bekam mit ihr noch weitere zehn Kinder. Er hatte weder zum Vater noch zur Stiefmutter ein inniges Verhältnis, seine Großeltern waren die wichtigsten Bezugspersonen für ihn. Der Vater schickte ihn nach dem Abitur als Lehrling in eine Spinnerei, an der er finanziell beteiligt war, doch für den feinsinnigen Karl Ernst Osthaus wurde diese Erfahrung zum Desaster. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und durfte schließlich studieren (Kunstgeschichte, französische Literatur, Geschichte, Ästhetik). Er wechselte ziemlich oft den Studienort. „Statt an einem Ort Wurzeln zu schlagen, findet er an seinen Studienorten Anschluss bei völkischen, alldeutschen und antisemitischen Studentenverbindungen“, heißt es in der Biografie.

Kunstvolle Fenstergitter mit dem Monogramm „KEO“

Erbe von 3 Millionen Mark und Käufer von Avantgarde-Kunst

Umso interessanter die spätere komplette Wendung, welche durch den plötzlichen Tod beider Großeltern ermöglicht wurde: Er erbte im Jahr 1896 ein Vermögen von drei Millionen Mark und anstatt es weiter zu vermehren, wie Menschen seiner Herkunft es normalerweise machen würden, steckte er es in Kunst und Kultur! Und zwar nicht in besonders „deutsche, volkstümliche Kunst“ oder wie auch immer man das bezeichnen will, sondern in das Modernste vom Modernen (wovon übrigens manches später von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert wurde). Wie kam es zu Osthaus‘ Interesse für zeitgenössische Kunst?

Schon früher hatte er sich mit dem Gedanken befasst, den Menschen im grauen Industrierevier Schönheit zu bringen und fasste nun den Plan, ein Museum zu gründen. Eigentlich sollte die Ausrichtung eher naturkundlich werden, doch bei einer Studienreise nach Nordafrika entwickelt er Interesse an den dortigen Kunstgewerbeobjekten, welche er erwirbt und mit nach Hause bringt. Bei einem „Praktikum“ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe im Jahr 1899 wird er durch dessen Direktor Justus Brinckmann inspiriert, „Werke der eigenen Zeit zu erwerben“ (S.26 Biografie von Rainer Stamm und Gloria Köpnick).

Anmerkung: Justus Brinckmann war übrigens der erste Museumsdirektor in Deutschland, der die Qualität japanischer Farbholzschnitte erkannte (welche ja einen großen Einfluss auf die damaligen Künstler/Jugendstilkünstler hatten) und er war auch der erste, der das bei der Weltausstellung 1900 in Paris gezeigte „Pariser Zimmer“ für sein Museum erwarb und so den Jugendstil in Deutschland zum allerersten Mal präsentierte.

Untergeschoss Hohenhof

Woher der Name Folkwang stammt

Karl Ernst Osthaus gibt seinem Museum den Namen „Folkwang“, welcher mit der altnordischen Mythologie verknüpft ist: Folkwang ist der Palast der Freia, der Göttin des Schaffens und der Schönheit. Es sollte eine Begegnungsstätte für alle Menschen sein, jedweden Standes.

Fliesen-Triptychon von Henri Matisse im Wintergarten im Hohenhof

Das modernste Museum seiner Zeit

Osthaus kauft in Frankreich Gemälde von zahlreichen Künstlern, einerseits Impressionisten oder Postimpressionisten, andererseits aber auch Vorreitern der modernen Kunst, also jene, die schon erste Anzeichen der Moderne in ihren Kunstwerken erkennen ließen. (Oft waren Maler oder Bildhauer darunter, die damals eher verbrämt wurden und erhebliche finanzielle Probleme hatten.) Unter den von Osthaus gekauften Werken sind heute sehr prominente Namen wie Van Gogh, Renoir, Cezanne und später Gauguin, Munch, Rodin vertreten. Damit war das Folkwang in Hagen das erste und einzige Museum in Deutschland, das nicht nur zum allerersten Mal zeitgenössische Kunst zeigte, sondern auch Avantgarde. Mit diesen Ausrichtungen war es tatsächlich das modernste Museum seiner Zeit! Unglaublich, oder?

Parallelen zur Mathildenhöhe in Darmstadt

Und das in einer abseits gelegenen, in gewisser Weise provinziellen Industriestadt und nicht etwa in Berlin oder München! Womit es natürlich Ähnlichkeit mit Darmstadt hat… Auch dort verabschiedete sich ein kunstsinniger Mensch (Herzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, siehe Blogartikel hier) vom „Althergebrachten/Wilhelminischen/Historistischen“ und rief etwas gänzlich Neues ins Leben. Und genau wie Ernst Ludwig wollte Karl Ernst Osthaus sich nicht mit einem Museum zufriedengeben, sondern darüber hinaus auch zeitgenössische Kunstproduktion in Hagen stattfinden lassen, sprich: eine Künstlerkolonie wie in Darmstadt gründen. Er schaffte es, u.a. Milly Steger, Johan Thorn Prikker, Johannes L.M. Lauweriks und Christian Rohlfs nach Hagen zu holen.

Doch weiteres im nächsten Blogartikel zum Osthaus-Museum. 🙂

Infos

Literaturtipps

  • „Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt“ von Rainer Stamm und Gloria Köpnick, C.H. Beck, 2022
  • „Der Hagener Hohenhof“ von Rouven Lotz, ardenkuverlag, 2009
  • „Zwischen Tradition und Moderne. Jugendstil und mehr in Hagen“, herausgegeben von Tayfun Belgin, Michael Eckhoff und Elisabeth May, ardenkuverlag, 2019

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