In diesem Blogbeitrag (Teil 2) porträtiere ich den Ort Worpswede und stelle die Gründergeneration der Künstlerkolonie vor. Die für mich bedeutendsten Künstler – Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler – beschreibe ich ausführlicher.



Der Ort Worpswede
Worpswede ist eine kleine Gemeinde im Landkreis Osterholz in Niedersachsen, etwa 30 Kilometer nördlich von Bremen. Sie liegt mitten im Teufelsmoor, am 54 Meter hohen Weyerberg, einer aus Sand bestehenden Erhebung. In dem Buch „Worpswede – Einführung in Landschaft und Kunst“ wird eindrucksvoll die Moorkolonisation beschrieben, die notwendig war, um im Gebiet des Teufelsmoors leben zu können. Eine äußerst beschwerliche Aufgabe für die Menschen, die aus der Entwässerung des Gebiets, der Anlage von Kanälen und Torfgewinnung bestand.

So hieß es denn auch: „Den Ersten sien Dot, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brot“ (Dem ersten sein Tod, dem zweiten seine Not, dem dritten sein Brot): Erst in der dritten Generation konnte Landwirtschaft in höherem Maße betrieben werden und der Hof die Ernährung der Familie sicherstellen. Worpswede ist bekannt für seine Künstlerkolonie, die sich 1889 hier gründete.

Was ist eigentlich eine Künstlerkolonie?
Laut Wikipedia ist eine Künstlerkolonie „eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Künstlern, die vorwiegend von Malern praktiziert wird“. In dem Buch „Zeit der Aussteiger – Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità“ von Andreas Schwab wird es noch konkreter: Dort ist von einer „bewussten Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft“ die Rede. „Die Aussteiger suchen eine Gegenwelt zur Dichte und zum Konkurrenzdruck in den Städten.“ Und: „Viele von ihnen kämpfen für ein selbstbestimmtes und modernes Ich.“
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich Menschen zusammengeschlossen, um gemeinsam auf dem Land zu leben und zu arbeiten. Dabei wurden auch Kontakte mit den Einheimischen geknüpft, die oft in den Kunstwerken dargestellt wurden.
Entstehung der Künstlerkolonie
Fritz Mackensen (1866-1953), ein Student der Düsseldorfer Kunstakademie, hatte Mimi Stolte kennengelernt, die Nichte seiner Wirtin. Diese stammte aus dem Teufelsmoor und schwärmte dem jungen Mann von ihrer Heimat in den leuchtendsten Farben vor, so dass er der Einladung ihrer Familie in den Semesterferien 1884 folgte. Später brachte er seinen Studienfreund Otto Modersohn (1865-1943) mit und im Jahre 1889 beschlossen die beiden, gemeinsam mit einem weiteren Freund: Hans am Ende (1864-1918), sich dauerhaft in Worpswede niederzulassen und dem akademischen Malen in den Ateliers der Kunsthochschule den Rücken zu kehren. Sie wollten nicht mehr Gipsbüsten abzeichnen, die Natur sollte ihnen stattdessen Lehrerin und Inspiration sein. Im Jahr 1894 schloss sich ein weiterer Kommilitone der Düsseldorfer Akademie an: Fritz Overbeck (1869-1909), der wiederum den jungen Heinrich Vogeler (1872-1942) mitbrachte.

Durchbruch der Künstlervereinigung Worpswede
Im April 1895 stellten sie zum ersten Mal gemeinsam in der Bremer Kunsthalle aus, was gemischte Reaktionen hervorrief. Obwohl zwei Gemälde angekauft wurden (Mackensens „Der Säugling (Moormadonna)“ und Modersohns „Herbst im Moor“), müssen sie auch Kritik einstecken: Ihre Ausstellung wird von einem Kritiker als „Lachkabinett“ bezeichnet. Doch im Juni desselben Jahres nehmen sie an der Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast teil und erleben dort ihren großen Durchbruch. Mackensens Gemälde „Gottesdienst im Freien“ erhält die Goldmedaille und Modersohns „Sturm im Teufelsmoor“ wird von der Münchner Pinakothek angekauft. Fortan sind sie in aller Munde, bekommen zahlreiche Ausstellungsanfragen und verkaufen ihre Werke. Sie gründen die Künstlervereinigung Worpswede.
Ankunft der Kunstschülerinnen
Wenig später stießen auch Frauen zur Kolonie. Da Frauen damals an den Kunstakademien noch nicht zugelassen waren, hatten sie quasi nur durch privaten Malunterricht die Möglichkeit, sich professionell künstlerisch ausbilden zu lassen. Die etablierten Künstler wiederum profitierten von dieser zusätzlichen Einnahmequelle. Viele nahmen die Frauen aber nicht ernst und bezeichneten sie als „Malweiber“.
1. Paula Modersohn-Becker
Besonders hervorzuheben ist Paula Becker (1876-1907), die 1898 nach Worpswede zieht und dort Schülerin von Fritz Mackensen wird. Dort trifft sie auf die spätere Bildhauerin und Ehefrau des Dichters Rainer Maria Rilke: Clara Westhoff (1878-1954) und freundet sich mit ihr an. Rilke selbst wird auch Gast in Worpswede und schreibt eine Monographie über die Worpsweder Künstler.

Frühe Jahre und Worpswede
1901 heiratet Paula Becker Otto Modersohn, der Zeit ihres Lebens der Einzige ist, der ihr malerisches Talent und die Bedeutung ihrer Werke erkennt. In ihrer ersten Ausstellung in Bremen 1899 werden ihre Werke verrissen. Überhaupt wird ihr trotz unglaublicher Produktivität (734 Gemälde und 1600 Zeichnungen in 9 Jahren) keine öffentliche Anerkennung zuteil. In der Ehe fühlt sie sich – obwohl ihr Mann sie künstlerisch sehr unterstützt – wegen ihrer hausfraulichen Pflichten zunehmend eingeschränkt. Sie nimmt sich Auszeiten in Paris, wo sie Kurse an Kunstakademien belegt und inspiriert wird von zeitgenössischen avantgardistischen französischen Malern und Künstlern wie Auguste Rodin, Paul Cézanne, Henri Rousseau und Paul Gauguin.

Paris und künstlerische Entwicklung
Auch kommt sie dort in Kontakt mit der Kunst aus Ägypten und dem alten Japan. Paris bringt sie entscheidend in ihrer künstlerischen Entwicklung voran, was dazu führt, dass sie eine eigenständige Bildsprache entwickelt und damit zu einer der bedeutendsten Künstlerinnen der Moderne und einer Wegbereiterin des Expressionismus wird. Ihrem Werk wird inzwischen (anders als dem der anderen Worpsweder Künstler), eine besondere kunsthistorische Bedeutung beigemessen. Ihre Motive umfassen Selbstportraits, Portraits, Stilleben und Landschaften. Zeitlebens wünschte sie sich ein Kind und lange blieb ihr der Wunsch verwehrt. Als sie 1907 die Tochter Mathilde gebärt, verordnet ihr der Arzt nach einer schweren Geburt Bettruhe. Nach ca. 3 Wochen darf sie zum ersten Mal aufstehen, bekommt jedoch eine Embolie und verstirbt mit nur 31 Jahren. Ihre letzten Worte lauten „Wie schade“.
Vermächtnis
Ihr Ehemann Otto Modersohn kümmert sich gemeinsam mit Heinrich Vogeler um den Nachlass seiner verstorbenen Frau. Tatsächlich fand 1913 im Museum Folkwang – das heute als Osthaus Museum Hagen bekannt ist (siehe Blogartikel hier) eine umfassende Ausstellung zu ihrem Werk statt (siehe hier). Im Jahr 1927 gründete der Mäzen und Kunstsammler Ludwig Roselius das heutige Paula Modersohn-Becker-Museum in Bremen. In Worpswede kann man ihr Grabmal besuchen.
2. Heinrich Vogeler

Besonders interessant für alle Jugendstil-Interessierten ist der Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Schriftsteller und Pädagoge Heinrich Vogeler (1872-1942). Wie man aus seinen vielen verschiedenen Tätigkeiten herauslesen kann, schuf er ganz im Sinne des Jugendstils ein Gesamtkunstwerk, nämlich seinen damaligen Wohnsitz, den Barkenhoff.


Frühes Leben und Studium
Genau wie Karl-Ernst Osthaus (siehe Blogbeitrag hier) wurde Vogeler in eine gutbürgerliche, wohlhabende Familie hineingeboren. Sein Vater erwartete, dass er eines Tages die Familienfirma, einen Eisenwarengroßhandel, übernehmen würde. Vogeler erkrankte jedoch schwer, eine weitere Parallele zu Osthaus. Schließlich durfte er mit dem Segen seiner Familie ein Kunststudium an der Düsseldorfer Akademie aufnehmen. Dort lernte er seinen Studienkollegen Fritz Overbeck kennen, der ihn den bereits ansässigen Künstlern in Worpswede empfahl, wo er ab 1892 lebte.
Vogelers Werk unterscheidet sich deutlich von der Landschaftsmalerei, die die übrigen Worpsweder Künstler praktizierten. In seinen Kunstwerken kreierte er träumerische Märchenwelten mit Prinzessinnen und Rittern, wobei seine Ehefrau Martha (1879-1961) oft die Hauptdarstellerin war.

Erfolge und Werke
Ab 1899 wird er Mitarbeiter der Zeitschrift „Die Insel“ (heute der Insel Verlag) für die er zahlreiche Illustrationen, Vignetten und Bucheinbände schuf. Er war sehr erfolgreich damit und konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Sein malerisches Frühwerk ist den Präraffaeliten zuzuordnen, einer Gruppe von englischen Künstlern, die Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflusst wurden von der Kunst des Mittelalters und von Künstlern der italienischen Renaissance.

Als Architekt baut er u.a. den Worpsweder Bahnhof. Darüber hinaus gestaltet er die Güldenkammer des Bremer Rathauses im Jugendstil. Doch sein Erfolg ist nicht von Dauer. Die Begeisterung für den Jugendstil klingt bei den Menschen ab, auch seine Ehe mit Martha scheitert.
Wandel und spätere Jahre
Er meldet sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs freiwillig an die Front. Die Erlebnisse wandelt ihn komplett: Er wird zum radikalen Pazifisten und Sozialisten. Auch sein Malstil ändert sich: Nun schafft er expressionistische Werke. Er versucht, den Barkenhoff in eine sozialistische Kommune umzubauen. 1923 heiratet Vogeler Sonja Marchslewska und geht mit ihr in die Sowjetunion, wo er den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft miterleben wollte und so genannte „Komplexbilder“ erschuf, in denen er „kommunistische Lebens- und Gesellschaftsformen mit expressionistischen, futuristischen und kubistischen Stilmitteln darzustellen versuchte“(Heinrich Vogeler: Künstler, Träumer, Visionär. Hirmer Verlag, S.14). Nach dem Einfall der deutschen Truppen wurde er 1941 nach Kasachstan zwangsevakuiert, wo er krank wurde und verarmt starb. Seine frühen Gemälde gefallen mir sehr, doch mehr dazu in Teil 3. 😊
Literaturtipps
- Künstlerkolonie Worpswede, Prestel Verlag 2015
- Worpswede: Einführung in Landschaft und Kunst, Atelier im Bauernhaus, 2009
- Ein Tag in Worpswede, Helmut Stelljes, VDG Verlag 2019
- Heinrich Vogeler: Künstler – Träumer – Visionär, Hirmer Verlag 2022
- Heinrich Vogeler und der Jugendstil, Dumont 1997
- Zeit der Aussteiger – Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità, Andreas Schwab, Verlag C.H.Beck 2021

